© 2021, Septime Verlag, Wien
Alle Rechte vorbehalten.
EPUB-Konvertierung: Esther Unterhofer
ISBN: 978-3-903061-84-2
Lektorat: Barbara Lösel
Cover: Jürgen Schütz
Umschlagbild: © Shutterstock
Printversion: Hardcover, Schutzumschlag, Lesebändchen
ISBN: 978-3-99120-001-7
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Salih Jamal
(geb. 1966) hat seine Wurzeln in Palästina. Er lebt und arbeitet in Düsseldorf. Sein Debütroman Briefe an die grüne Fee – Über die Langeweile, das Begehren, die Liebe und den Teufel wurde in 2018 auf der Frankfurter Buchmesse für das beste Buch des Jahres in der Kategorie »Zeitgenössische Literatur« ausgezeichnet.
Das perfekte Grau ist sein erster Roman bei Septime.
Klappentext
Das ist die Geschichte von Novelle, Rofu, Mimi und von mir. Rofu hat nur ein Ohr und ist über das Meer gekommen. Aus Afrika. Mimi ist Engländerin. Sie hat ihren Mann umgebracht, nun versteckt sie sich unter Perücken und hinter dunklen Brillen. Novelle ist noch sehr jung. Sie liebt Mangas und die Sauferei. Manchmal fährt sie einfach aus der Haut oder sie hört Stimmen. Den komischen Namen hat sie von ihrer Mutter. Als unsere Geschichte damals losging, wusste ich das alles noch nicht. Ich, ich heiße Ante, aber alle nennen mich Dante. Wegen des Infernos. Ich bin, genau wie die anderen, auch auf der Flucht.
Ich glaube, vor mir selbst.
Alles fing damit an, dass zwei Polizisten wegen Mimi in dem Hotel, in dem wir gearbeitet hatten, auftauchten. Ich könnte jetzt noch erzählen, wie Novelle verschwunden und wieder aufgetaucht ist, was wir in Berlin getrieben haben oder wie wir Erleuchtung beim Pilgern nach Altötting erlangten. Aber darum geht es in der Geschichte ja eigentlich gar nicht. Es geht nämlich darum, dass wenn wir schon vor irgendwem oder irgendetwas fliehen, wir uns besser nicht vor unseren Dämonen wegducken sollten. Weil man sonst immer ein Geflüchteter bleiben wird und niemals wo ankommt.
Und es geht auch um Heimat, die wie eine Haut ist.
Salih Jamal
Das perfekte Grau
Roman | Septime Verlag
Das ist beinahe die Geschichte, die sich bald nach Ereignissen auf einem Dach zugetragen hat.
Sie ist der Freundschaft gewidmet.
1. DAS LEISE SIRREN
Ich sah den Rost an der Heizung. Er fraß sich von den Rändern durch die weiße Emaille immer weiter über die einst so glänzenden Flächen. Ein neuer Sommer stand in der Tür und wartete nur darauf, eintreten zu können, um mit seinen Geschichten der Vergänglichkeit Widerstand zu leisten. Die Vorbereitungen für die Saison waren in vollem Gange, alles musste hergerichtet werden, obgleich es nie ganz zu schaffen war, das Haus mit der Feuchtigkeit, die über das Efeu in die Mauern und unter die Dachziegel kroch, auf Vordermann zu bringen. Die Seele des Hotels steckte in einem maroden Körper, und mit jeder Schicht Lack, die man auf die abgeschürften und wunden Stellen der Wände oder der Möbel auftrug, mutete dieses Haus wie die Fratzen der verspachtelten und überschminkten Gesichter der alten Damen mit grauen Kurzhaarfrisuren an, die bald begleitet von ihren kleinen Hündchen oder ihren Ehemännern in beigen Windjacken kommen würden. Die Farbe, die jedes Jahr über alles gestrichen wurde, hielt das, was sich schon vor Zeiten auflösen wollte, zusammen. Ohne den ganzen Kleber wäre wohl nicht nur das Hotel, sondern sicher auch der Rest des Ortes schon vor langer Zeit zerfallen.
Ich konnte machen, was ich wollte. Das Seebad erinnerte mich in seinem morbiden Zustand an den Ort meiner Kindheit. Ich komme aus einem kleinen, entlegenen Dorf, gar nicht so weit von hier. Ein Postamt, eine Kirche, der kleine Laden direkt daneben und der Blaue Krug. Dort trafen sich die Leute nach der wenigen Arbeit, die es gab, und fühlten sich in den aufbrechenden neuen Zeiten nicht mehr so fremd. Zu uns führte keine wirkliche Straße. Die Autobahn wurde an den Häusern vorbei gebaut, ohne eine Ausfahrt, die man hätte nutzen können. So blieb nur das Rauschen und das leise Sirren der Lkw-Reifen auf dem Flüsterasphalt hinter dem hohen Damm, der an manchen nicht enden wollenden Tagen wie eine unüberwindbare Wand zu einer unbekannten, anderen Welt erschien. Ein Wall, der vor den Geräuschen der Straße schützen und alles versteckt halten sollte.
Ich war ein Einzelkind und wohnte mit meinen Eltern einen Steinwurf vom Dorf entfernt. Dort, wo die Felder weit waren und die Schallschutzwand das Licht und das Land bis in den Himmel teilte. Das Haus stand etwas hinter dem Punkt, an dem der neue Straßenbelag aufgebraucht war und noch die alten Waschbetonplatten aus schlechteren Zeiten auf der Fahrbahn aneinandergereiht lagen. Es war klein, mit kleinen Zimmern, kleinen Fenstern und niedrigen Decken. Der graugelbe Putz bröckelte von der Fassade, genau wie die Zuversicht schleichend zerfiel, die die Leute nach dem großen Umbruch im Land einst ergriffen hatte und sie von neuen Richtungen zu weiten Horizonten träumen ließ. Damals, als die Autobahn ausgebaut wurde. Doch die großen Veränderungen fuhren auf den Ladeflächen der Lastwagen hinter der Lärmschutzwand an ihnen vorbei. Hin zu anderen Träumen von anderen Menschen.
Seit diesen Tagen spüre ich dieses nicht lokalisierbare Pochen. Ich erinnere mich an das beklemmende Gefühl meiner ersten aufkommenden Rastlosigkeit – immer dann, wenn ich in meiner Kammer lag und plötzlich in der Nacht mit einer so realen Angst aufwachte und hörte, wie sich das Flüstern der Straße an der Schnittstelle zwischen alter und neuer Fahrbahndecke zu einem Trommeln veränderte. Ein Schlagen, das sich dunkel in mich fraß und zu meinem hinkendem Pulsschlag wurde. Während die Reifen über die Bitumennaht der alten Straßenplatten holperten, wartete ich auf ein unbestimmtes Ereignis, welches sich stolpernd heranschlich. Wenn ich im Bett lag, dann zählte ich das Schlagen wie bei einem Countdown, der aus dem Takt geraten war und nie bei null ankam. Der etwas Neues ankündigte. Stillstand und Langeweile konnte ich noch nie aushalten. Schließlich lief ich fort, um alles hinter mir zu lassen. In dem Dorf, in dem ich aufgewachsen war, bin ich nie wieder gewesen. Die tiefen Wurzeln machten mir Angst.
Heute weiß ich es besser: Du kannst noch so starr nach vorne blicken, dich noch so verbissen der Erinnerung verweigern und noch so schnell laufen – irgendwann schaust du dich um, blickst zurück und stellst fest, dass der ganze Weg, den du gegangen oder gerannt bist, dich nur einen Steinwurf weit von deiner Herkunft fortgeführt hat. Man kann seine Heimat verlassen, aber es gibt keine Gegenwart ohne Herkunft. Niemals und nirgends.
Im Frühjahr des letzten Jahres kam ich hierher. In diesen Küstenort, der früher einmal ein prominenter Kurort am Meer war, aber dann über die Jahre seinen Glanz verloren hatte und nun nur noch im Sommer alte Leute oder vereinzelt nachwachsende Familien beherbergte, die nichts Besseres wussten. Ich hatte gehört, dass es hier Arbeit und Unterkunft gab, und weil auch ich nichts Besseres wusste, als in einem alten Seebad den besten Ausgangspunkt für all die Wege zu suchen, die ich noch nehmen würde, ohne mich zu früh festlegen zu müssen, fuhr ich hin. Im Herbst hatte ich immer noch kein Ziel gefunden, das mich interessiert hätte, und so verpasste ich es, abzureisen. Die Schönheit des Sommers, der in dieser Gegend mit seinen Farben sein Bestes gab, während ich nach getaner Arbeit ein Bier trank, das Meer betrachtete und mich von den herüberwehenden Brisen in meine Gedanken entführen ließ, genügte mir für den Moment. Kein Tagtraum war groß genug, mich am nächsten Morgen mit gefassten Entschlüssen aufwachen zu lassen. So verbrachte ich meine Zeit, während ich dem Dasein im Wettstreit meine eigene Gleichmut entgegenwarf. Fürs Erste war ich mir mit dem Ort genug, und der Ort hatte nichts gegen mich.
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