Sie stockte und rang nach Luft oder nach Worten.
»Auch mein Vater hat diese Augen. Die Augen sind das Schlimmste. Sie tun so viel mehr weh. Der Schmerz zwischen den Beinen lässt nach und vergeht. Aber die Augen. Wenn sie weit aufgerissen sind und dieses fürchterliche Toben aufbraust, dann weißt du, dass man dir weh tun wird, dass man dir ein weiteres Stück aus deinem Herzen rausreißt. Zurück bleibt eine Wunde, die sich nie wieder schließt, aus der es immerzu sickert. Tropfen um Tropfen. Bis du völlig ausläufst. Egal ob Blut oder Tränen. Irgendwann ist dann nichts mehr davon da. Nur noch ein verschissenes Loch, das in dir klafft, das dich ehrlos macht, weil nichts mehr von dem übrig ist, was mal dort an dem jetzt leeren Platz gewohnt hat. Genau an der Stelle, wo du selbst geborgen warst. Diese Scheißaugen! Und diese Scheißgeborgenheit!«
Sie hustete und presste wieder ihre Fäuste. Dann fuhr sie fort:
»Irgendwann ist dann alles leer. Sogar die Wut ist aus dir ausgeräumt. Dann ist da nur noch dieses verfickte dunkle Loch! Ein Loch in meinem Leben. Nur wegen dieser Scheißaugen. Immerzu schauen sie auf mich, und ich weiß, was dann passiert.«
Sie stand auf, trat den Sand in unsere Richtung und rannte weg. Der Wind hatte gedreht und blies jetzt vom Festland über das Meer.
7. ZELDA
Die nächsten Wochen im Wahn begannen so: Die Rückfahrt verbrachten wir schweigend. Ich am Ruder, Rofu und Mimi achtern, Novelle saß mit bis zum Kinn angewinkelten Beinen vorn beim Mast und schaute aufs Wasser. Jeder hing seinen Gedanken nach. Eine schauerliche und traurige Stimmung hatte uns eingehüllt. Ich dachte darüber nach, ob auch ich diesen Blick hatte. Ich bin auch ein Mann und ich trage, wie jeder andere, ein Begehren in und mit mir. Ich schaue Frauen auf die Beine oder den Po. Kann man es mir ansehen, wenn ich mir Dinge vorstelle? Sind die Gedanken frei? Sind sie denn wirklich frei? Wusste Mimi, dass ich gerne mit ihr schlafen wollte? Und wenn ja, wie fühlte sie sich dabei?
Im Hafen machten wir das Catboot fest. Die anderen gingen schon zum Hotel und ich kümmerte mich mit dem Vercharterer um die Rückgabe. Der Benzinverbrauch wurde geprüft, eine Rechnung ausgedruckt und schließlich nahm der Hafenwart den Schlüssel an sich und hängte ihn in ein kleines Kästchen an der Wand hinter seinem Schreibtisch. Er gab mir die Kaution zurück und ich trabte auch nach Hause.
Ich spürte, dass an diesem Nachmittag ein Punkt erreicht war, der mich zu Entscheidungen zwingen würde. Ich wusste, dass die Zeit des Aussitzens vorüber war. Dass mich in einem ruhigen Gewässer unwillkürlich eine Stromschnelle getroffen hatte, die mich in fremde Richtungen schleudern würde. Novelles Schilderung des Missbrauchs, den sie erlitten hatte, beschäftigte mich sehr, meine Gedanken trieben durch meinen Kopf, sausten nach unten, versanken. Die Vorstellung dessen, was mit ihr geschehen war, und der Gegensatz zu meinen kleinen Sorgen beschämten mich unendlich.
Auf dem Weg vom Steg zurück zum Hotel wurde mir mit einem Mal bewusst, dass ich dabei war, mich auf etwas einzulassen. Man hätte meinen können, dass mich die Poesie und die Romantik der Bücher, die ich las, zu einem mitfühlenden Menschen gemacht hätten. Aber das war ich nicht. Jedenfalls nicht wirklich. Ich gab nur von dem, was ich sowieso im Überfluss hatte. Gute Ratschläge, einen Witz oder besoffene Gespräche über den großen Zusammenhang und all den universellen Scheiß. Empathie aus Plastik.
Mein Herz zu teilen mit denen, die davon nur noch wenig hatten, damit sie sich an meinem gesunden konnten, vermochte ich nicht. Ich sah nur mein eigenes Herz, und das wollte ich schützen. Nicht merkend, dass es umso kräftiger wird, je mehr man davon seinem Nächsten gibt. Jetzt verstand ich Novelles Tätowierungen, ihr aufgespaltenes Wesen, das sich genau wie die sich häutende Schlange auf ihrem Schenkel zu befreien versuchte. Mit Alkohol, durch Aggression, Verzweiflung und dem, was sie nachts, wenn sie ausging, sonst so machte, um ihre Einsamkeit oder um überhaupt irgendwas zu betäuben. Selbsthass verdrängte meine Scham, und beißende Wut arbeitete sich in mir hoch.
Der kürzeste Weg zu den Personalbaracken ging über einen kleinen Parallelweg, der gegenüber der Straße von hinten direkt auf den Hof mit den Garagen und unseren Wohnungen führte. Ich wollte durch den Hintereingang ins Hotel, um in der Küche ein bisschen Käse und Brot zu klauen, überlegte es mir aber an der Tür anders und kehrte wieder um. Zuvor lugte ich noch durch die Scheibe. In der Lobby mit den kleinen Sitzgruppen sah ich die beiden Typen, die am Morgen eingecheckt hatten. Sie unterhielten sich mit Katja, die ihnen wohl gerade einen Kaffee serviert hatte. Die Schmottke saß in ihrem Sessel vor ihrem Fernseher hinter dem Thekenschalter, der bis Brusthöhe gebaut war. Ich konnte sie nicht sehen, aber ich hörte die Glotze mit dem eingespieltem Applaus von irgendeinem Game-Show-Schwachsinn.
Zurück im Hof sah ich Mimi. Sie hatte in jeder Hand einen Koffer und war im Begriff, durch das Tor nach hinten auf den kleinen Parallelweg zu gehen. Ich rief ihr nach. Klar, Novelles Geschichte war schlimm, und auch ich war getroffen und hätte am liebsten ihrem Vater sofort etwas untenrum abgeschnitten. Aber das konnte es nicht alleine gewesen sein, weshalb sie sich jetzt durch den Hinterausgang davonmachte.
Hatte sie auf der Insel oder während der stummen Rückfahrt nachgedacht und etwas war in ihr aufgewacht? So wie bei mir auch? Vielleicht wollte sie plötzlich nicht mehr hier, wo alles schon längst den Weg des Dodos gegangen war, ihr Leben vergeuden. Nicht in jeder Saison von kaputten Typen kaputte Geschichten aus kaputten Leben anhören, um dabei jedes Jahr selbst ein Stückchen mehr kaputtzugehen? Sie passte sowieso nicht hierher. Ich stellte sie mir mit ihrer aristokratischen Art an anderen Orten vor. In Biarritz, in der Schweiz, in Saint-Tropez oder in den goldenen Zwanzigern.
Mimi war trotz ihres Alters einfach zu spät auf diese Welt oder vielleicht auch nur an diesen Ort gekommen. Vor achtzig Jahren wäre sie in mondänen Clubs eine Göttin im Cocktailkleid gewesen. Und wie gerne hätte ich sie dabei begleitet. Als erfolgreicher Schriftsteller im Smoking, rauchend und mit einem Drink in der Hand. Sie als Zelda und ich als F. Scott Fitzgerald.
Sie hörte mich, ließ ihre Koffer stehen, drehte sich um und legte den Finger auf ihre rot angemalten Lippen. Dann ging sie auf mich zu. Anstelle der Doris-Day-Perücke standen nun ihre kurzen roten Raspelhaare in alle Richtungen. Eine von ihren tausend Brillen steckte dazwischen. Sie legte die Hände auf meine Schultern und sagte:
»Ich muss fort. Frag nicht. Du bist ein lieber Kerl, weißt was richtig ist.«
Wie sollte ich wissen, was richtig war? Ich wischte ihre Hände von meinen Schultern und zischte sie an:
»Wieso hauen die Menschen immer ab? Immer wenn man gerade dabei ist, sich auf jemanden zu verlassen, wird man verlassen.«
Der letzte Satz rutschte mir so raus und Mimi sah mich lange und fragend mit ihrem Silberblick an. Dieser letzte Satz war eine unbewusste Bestätigung des Wandels, der in mir vorging, und innerlich erschrak ich darüber.
Mimi wusste ja nicht, dass ich es sonst war, der ein Meister im Verlassen war. Jetzt, wo ich sie so dastehen sah, vielleicht ein letztes Mal, schwamm mein ganzes elendiges Leben wie in einem trüben Tümpel vor meinen müden Augen. Ich hatte nicht nur Zelte abgebrochen, sondern ganze Häuser eingerissen. Immer aus Liebe oder besser: wegen ihr. Es war einfach zu viel davon in mir drin und drängte nach draußen. Stopft man aber erst einmal die Liebe unter eine Käseglocke, dann wird sie fermentiert. Sie hält sich noch etwas länger frisch, doch sie ist in einem Glas gefangen und wird dort eines Tages schimmlig und schlecht.
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