»Was ist denn bloß so komisch?«
»Ach, nichts.« Sie streckte die Hand nach dem Pullover aus, der am Fußende lag. »Du, habt ihr irgendwas zu Essen im Haus?«
»Zu Essen? Jetzt?«
»Ja.«
Er erhob sich, fuhr sich langsam mit der Hand über die Haare, mehrmals, wie um das Elend zu glätten.
»Die Küche ist unten. Nimm dir, was du willst. Im Kühlschrank müsste was sein.«
Sie zog eine Bürste aus ihrer Tasche und fuhr sich damit einige Male durch ihre Haare. Die knisterten und klebten an ihrer Wange.
»Willst du nichts?«
Er ließ sich aufs Bett fallen. Seine gefalteten Hände hingen schlaff zwischen seinen Oberschenkeln. Auch sein Kopf hing nach unten, während er sie wütend anstarrte. Stiernacken.
»Nö.«
In der Tür blieb sie stehen. Kaute auf der Innenseite ihrer Wange herum.
»Ach, du, ich glaube, ich gehe lieber gleich.«
»Willst du denn nichts mehr essen?«
»Nein, ich gehe.«
»Mach, was du willst. Du findest doch wohl selbst raus?«
Scheißtyp.
»Was bildest du dir denn ein? Meinst du, man braucht Karte und Kompass, um hier rauszukommen ...«
Wieder blieb sie stehen, streckte den Kopf nochmal ins Zimmer.
»Sehen wir uns morgen?«
»Morgen spiele ich, und am Sonntag ist Training und ...«
Sie knallte die Tür zu, war ihr doch egal, ob seine Scheißmutter aufwachte und Himmel und Erde in Bewegung setzte ... aber vielleicht war die ja gar nicht so. Ihre eigene Mutter saß wohl in der Küche und rauchte eine nach der anderen, hatte sicher inzwischen alle Nachbarn und Andreas ganzen Freundeskreis durchgeklingelt. Verdammt, wie peinlich. Eine Mutter, die herumtelefonierte und nach ihr fragte wie nach einem Scheißbaby, das nicht auf sich selbst aufpassen konnte. Bestimmt glotzte sie aus dem Fenster, mit ihren rot unterlaufenen Augen, und wenn Andrea dann nach Hause käme, würde sie behaupten, sich Sorgen gemacht zu haben. Und dann würden ihre Hände theatralisch zittern und sie würde sich die Haare zurückstreichen und den Morgenmantel fest um sich zusammenziehen und Andrea bebend anglotzen, mit diesem Tränenblick, bei dem man immer den Boden anstarren und begreifen musste, dass man sie verletzt hatte.
Auf der Straße wehte ein angenehmer Wind. Schwarz war es außerdem, schwarz und leer. Alle Leute in diesem Stadtteil schliefen wohl hinter ihren hübschen Rollos. Verdammt, hier wohnen zu müssen! Tobias’ Mutter war sicher so eine Keifzange mit schmalen Lippen und Rouge auf den Wangen. Wenn man hier wohnte, war man eben so. Bürosklavinnen, so nannte ihre eigene Mutter solche Leute. Latschen sich die Sohlen auf weißem Linoleum ab. Warum Büroböden immer weiß sein mussten, hatte Andrea nie begriffen. Der Boden, auf dem ihre eigene Mutter arbeitete, war grün, und da nutzte man sich Knie und Schultern ab. Alte Leute hochzuheben sei keine Arbeit für Schwächlinge, das sagte ihre Mutter immer.
Rasch und lässig ging Andrea weiter, die Tüte über ihre Schultern geworfen. Die Uhr war vorausgeeilt und zeigte jetzt schon zwei. Glücklicherweise brauchte Andrea am nächsten Morgen nicht früh aufzustehen, schließlich war Samstag. Und samstags hatte sie frei von dem vier Wochen dauernden Sommerjob auf dem Friedhof, den sie sich gesucht hatte. Dort goss sie Blumen und harkte den Kies. Es gab wirklich lustigere Dinge, die man um sieben Uhr morgens tun konnte, aber so war es nun eben, auch sie musste ihr Scherflein beitragen, wie ihre Mutter immer sagte.
Tobias. Sie versetzte dem Bordstein einen Tritt. Er hatte nur ihre Schuhe gesehen. Oder, genauer gesagt: Er hatte zuerst die Schuhe gesehen, und dann war sein Blick an der Besitzerin dieser Schuhe hochgeglitten. Zu dem fremden Gesicht. Tobias Lindgren. Gerüchten zufolge hatte er mit jedem Mädchen auf der ganzen Schule geschlafen, genauer gesagt, mit jedem Mädchen, das gut genug für ihn war. Das er nicht nur auslachte, während er über seine Schulter in den Kies spuckte. Und wie er mit Kippen um sich warf! Die waren so zahlreich wie die Mädchen, die sich um ihn drängten. Und nun war Andrea an der Reihe gewesen, von den blauen Augen und dem Mund eingefangen zu werden, der laut und viel über gar nichts redete.
Du blöde Kuh, Andrea, sagte sie leise zu sich, während sie über den dunklen Bürgersteig ging. Morgen Abend, wenn sie sich in der Stadt an ihrem festen Platz sammelten, würden sie über sie lachen. Sie würde den Blicken nicht entgehen können, die ihr erzählten, was sie über sie wussten. Und wer konnte ahnen, welche Geschichten Tobias sich aus den Fingern saugen würde. Irgendeine Lüge, in der sie selbst als lächerlicher Anhang von jemandem fungierte, der doch überhaupt nichts von ihr wissen wollte.
Endlich hatte sie die Stadt erreicht. Auch die war stumm und leer. Sie wanderte am Radweg entlang durch Timmermansleden und drückte sich dabei an die Büsche. An den Kreuzungen tickten die Ampeln, in der Dunkelheit klang das schrecklich einsam. Als sie die Kirche St. Nicolai erreicht hatte, bog sie zum Marktplatz ab, den sie überqueren musste, um zur Hamngata zu kommen. Jetzt war es nur noch eine Viertelstunde bis zur Wohnung in der Muraregata, wo aller Wahrscheinlichkeit nach ihre Mutter in der Küche saß und die Hände so hart rang, wie sie vorher über dem Spülbecken den nassen Lappen ausgewrungen hatte. Die ausgedrückten Kippen im Aschenbecher auf dem Tisch, lang und nicht fertig geraucht.
Die Österbro kam ihr in der Nacht breit vor, nicht schmal, wie tagsüber, wenn sich dort die Busse drängten und es überall von Menschen wimmelte, während die Penner im so genannten Korkenpark johlten. Flaschen, Bierdosen und Pissegestank, kaputte, vollgeschmierte Bänke. Der Figaropark machte seinem Beinamen noch immer alle Ehre, auch wenn die alte Brauerei dahinter längst schon stillgelegt worden war. Jetzt war alles leer, auch wenn man nie wusste, ob nicht irgendwer in der Dunkelheit unter den Bäumen schlief.
Dann blieb sie stehen, dort auf der Österbro. Ihr war ein seltsames Geräusch aufgefallen. Die Laternen spiegelten ihren flammengelben Schein in der gekräuselten Wasseroberfläche des Flusses, am anderen Ufer rauschten unter einem Dach die Ventilatoren. Und wieder nahm Andrea ein leises Rascheln wahr. Falls das nicht nur vom Wind stammte. Jetzt fielen auch einige einzelne Regentropfen.
Das Brückengeländer lag kühl unter ihrer Handfläche, sie zog den Pulloverärmel über die Hand. Die Luftfeuchtigkeit war auf dem Metall zu Wassertropfen kondensiert, sie funkelten im Licht der Straßenlaternen. Stille und Dunst, eine perfekt gespenstische Nacht. Andrea hatte Angst – und genoss es zugleich. In ihrem Magen prickelte es wie nach einem raffinierten Horrorfilm. Hand in Hand mit Tobias, dachte sie. So sollte man solche Filme sehen, nicht allein, mitten in der Nacht auf einer Brücke. Aber das half jetzt nichts, so war es eben, Tobias war ein Idiot, und sie war noch viel blöder, wo sie mit ihm fast bis hinaus nach Scheiß-Tylösand gegangen war.
Unten, in der fast kompakten Dunkelheit zwischen den Bäumen, sah sie eine Bewegung. Vage registrierte sie eilige Schritte. Hörte pötzlich ein Platschen, als habe jemand einen Stein ins Wasser geworfen. Sie sah, wie die Wasseroberfläche sich bewegte, schwach blinkend unter den weiter entfernt stehenden Straßenlaternen. Die Kräusel verschwanden rasch wieder, und sie dachte, es sei vielleicht ein Vogel gewesen. Ein aus dem Nest gefallenes Junges oder eine Wasserratte.
Bei der Vorstellung einer Ratte erschauerte sie. Sie nahm noch weitere Geräusche zwischen den Bäumen wahr. Dann wurde alles still, das Wasser floss lautlos unter der Brücke hindurch, ein nachtaktiver Vogel klapperte mit dem Schnabel.
Plötzlich sah sie wieder jemanden, diesmal hinten in der Hamnagata, jemanden, der vom Wasser kam und zum Bürgersteig hochging. Was genau Andrea dazu brachte, weiter stehen zu bleiben, wusste sie nicht, es war einfach ein Gefühl, eine vage intuitive Ahnung, dass es besser wäre, dort zu bleiben, wo sie war. Die Person dort hinten ging mit ruckhaften, unregelmäßigen Schritten. Dann war eine Autotür zu hören, ein Motor, der angelassen wurde. Es musste in der Nähe dieses Friseursalons sein, der neulich umgebaut worden war, und wo eine Freundin von Andrea sich die Haare hatte schneiden lassen, weil deren Mutter den Besitzer kannte. Das Auto jagte los. Es bog auf die Brücke ab, und Andrea drückte sich in die Dunkelheit. Dann fuhr das Auto nach rechts und weiter vorbei an der Missionskirche und über die Strandgata, um schließlich irgendwo bei der Kaptensgata in Richtung Bahnhof zu verschwinden.
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