1 ...6 7 8 10 11 12 ...16 Andrea fröstelte, spürte, wie sich ihr Zwerchfell verkrampfte; mit diesem Auto hatte etwas nicht gestimmt. Dann schüttelte sie das Gefühl ab, ging wieder los, versuchte, noch irgendetwas zu finden, womit sie die Heimkehr hinauszögern könnte. Sie wollte dem unruhigen Blick ihrer Mutter im Halbdunkeln nicht begegnen, ihrer zitternden Hand mit der Zigarette unter dem Ärmel des Morgenrocks. Andrea seufzte. Wie lange würde es noch dauern, bis sie erwachsen und frei sein würde und über sich selbst bestimmen könnte? Noch eine ganze Ewigkeit, noch viel länger als dieser Spaziergang nach Hause. Von Stenhuggeriväg zur Muraregata in Eineinviertelstunden. Aber jetzt konnte sie nicht länger herumtrödeln, die Straße war leer und der Wagen, der in diesem Affenzahn weggefahren war, war verschwunden. Sie kam an einigen Läden vorbei, in denen kein Licht brannte, warf einen Blick in ein dunkles Lokal. Kam dann an einem Kleiderladen vorbei, dessen Fenster von Punktstrahlern über gebückten Schaufensterpuppen in seltsamer Kleidung beleuchtet wurden. Der Laden schien nicht sonderlich gut zu laufen, das hatte sie gehört. Schweineteuer und viel zu abgedreht. Ja, dachte Andrea. Alles ist so trist wie immer, mir bleibt nichts anderes übrig, als nach Hause zu gehen. Die Kirchturmglocke auf dem Marktplatz schlug dreimal. Sie ging weiter. Sie war sich nicht sicher, glaubte aber, einen leichten Brandgeruch wahrzunehmen.
Als Eva-Britt Bixe am Samstagmorgen aufwachte, wusste sie gleich, noch ehe sie die Augen geöffnet hatte, was los war. Und dieses Wissen ließ sie die Augen wieder schließen, sie ganz fest zusammenkneifen und so tun, als werde es noch einige Stunden lang Nacht sein. Nicht, dass sie aufstehen musste, sie hatte dienstfrei und war nur später mit ihrer Tochter Fia auf dem Marktplatz verabredet. Dann, um elf, würde sie, wenn auch nicht munter und lebhaft, aber doch so weit in Form sein, dass sie die drei Straßen durchaus hinter sich bringen könnte. Mit etwas Glück würde sie nicht absagen müssen.
Doch jetzt sah es noch ganz düster aus. Gütiger Himmel, dachte sie, und wagte es dann, langsam ein Auge aufzuzwingen, um sich die Bestätigung zu holen – Migräne. Ein kleiner weißer Blitz leuchtete auf, und gleich darauf funkelte es, als jagten glänzende Aquariumsfische in ihrem Blickfeld hin und her. Sie kniff die Augen zusammen, doch jetzt schwammen sie unter ihren Augenlidern, flammengelbe, brennende Fackeln. Sie konnte nur die Augen zumachen und warten. Es würde aufhören, früher oder später, und entweder bohrende Kopfschmerzen oder einen Druck wie von Ziegelsteinen auf ihren Schläfen zurücklassen. Normalerweise hatte Kommissarin Eva-Britt Bixe nie das Gefühl, ernsthaft krank zu sein, sie war wirklich keine Hypochonderin, aber bei jedem Migräneanfall glaubte sie, sofort tot umfallen zu können. Die Migräne traf sie jedes Mal wie eine Bombe.
Sie schob ein Bein über die Bettkante und tastete grunzend nach ihrem Morgenrock, den sie abends irgendwo am Fußende abgelegt hatte. Als sie die Arme in den dicken Frotteestoff schob, fühlte sie sich ein wenig besser, das flackernde Licht war nicht mehr so intensiv, und ihre Sicht hatte sich wieder ein wenig normalisiert. Was sie sah, war das Zimmer mit dem riesigen Doppelbett, über das sie inzwischen allein verfügte, die klumpigen Kissen, die sie wild auf der Matratze verstreut hatte, die dicke Daunendecke und auf dem Nachttisch der kleine Radiowecker mit den roten Ziffern sowie die Bilder der beiden erwachsenen Töchter. In der einen Zimmerecke thronte ein alter, geerbter Korbsessel, der zwar knarrte und an einigen Stellen zerbrochen war, von dem sie sich aber einfach nicht trennen konnte. Der Sessel hatte etwas, das Geborgenheit versprach, etwas Gebieterisches, sie konnte ihre Kleider darauf ablegen und er bildete das nötige Gegengewicht zu den hellen Farben des Zimmers.
Mit der Hand fest auf dem Geländer ging sie die Treppe ins erste Stockwerk hinunter, in der Dreizimmerwohnung, die sie seit einigen Jahren bewohnte und die ihr vorkam wie ihr erstes eigenes und echtes Zuhause. Das Haus, in dem sie fast zwanzig Jahre mit Gösta gewohnt hatte, hatte ihr Dasein kleinkariert und eng werden lassen. Eva-Britt war damals für das Einkaufen, das Kochen, das Aufräumen und die Wäsche zuständig gewesen. Ihr Ehemann hatte den Hang gehabt, sich endlos im Gefängnis herumzudrücken, wo er arbeitete, und wenn er dann endlich nach Hause kam, behauptete er, wenn auch mit einem freundlichen Lächeln, dermaßen erschöpft zu sein, dass er keinen Finger mehr rühren könnte. Am Ende hatte sie das alles so satt gehabt, dass sie der Sache ein Ende gemacht und den Mann vor die Tür gesetzt hatte. Übrigens eine Entscheidung, die sie noch nie bereut hatte. Das Einzige, was sie bereute, war, so lange gewartet zu haben. Auch sie war abends müde, wenn sie von der Wache nach Hause kam, und sich dann um zwei kleine Mädchen und außerdem um einen Ehemann kümmern zu müssen, der rauchend auf dem Sofa saß, das war einfach zu viel gewesen.
Das Licht von unten stach ihr in die Augen. Sie kniff sie wieder zusammen, als sie in die Küche ging. Das eine Auge fest geschlossen, das andere nur minimal geöffnet, warf sie einen Blick auf die Wanduhr. Erst zwanzig nach sieben. Da hatte sicher die Migräne sie geweckt, und dazu das vage Gefühl von Unlust, das immer damit einherging.
Mit den Jahren stellten die Migräneanfälle sich seltener ein. Nach der Scheidung hatte die Anzahl sich fast halbiert. Inzwischen kamen sie nur noch selten vor, meistens nach hektischen Phasen im Beruf. Als sollte sie einfach niemals Ruhe und Entspannung finden. Irgendetwas war immer. Als sie im vergangenen Jahr die Ermittlungen im Mord an einem Arzt beendet hatten, hatte sie innerhalb einer Woche gleich drei Migräneanfälle erlitten. Trotzdem, Eva-Britt hatte noch Glück gehabt, jedenfalls nach ihren eigenen Maßstäben. Es war Weihnachten gewesen, und zum ersten Mal seit Jahren hatte sie einen guten Grund gehabt, die Feiertage allein und im Morgenrock zu verbringen, wonach sie sich schon seit Ewigkeiten gesehnt hatte. Kein Schinken, keine Verwandtschaft, kein Weihnachtsmann, und vor allem kein Gösta. Denn meistens fand er sich zu solchen Gelegenheiten ein. Ihre ältere Tochter Klara, die jetzt in London wohnte, bestand darauf. Im vergangenen Jahr aber hatte die Familie ohne Mama zurechtkommen müssen. Eva-Britt hatte einen schönen Heiligen Abend verbracht, mit lindernden Schmerztabletten, Spaghetti carbonara und einem großen Stück Butterkuchen, das sie sich abends aus der Tiefkühltruhe gefischt hatte. Sie war früh ins Bett gegangen, hatte sich in die warme Daunendecke gewickelt und fast zwölf Stunden geschlafen.
Jetzt saß Kommissarin Eva-Britt Bixe am Küchentisch und schaute aus dem Fenster. Draußen im Regen leuchteten die Bäume in sattem Grün. Der Hof sah aus wie ein schönes, in gesättigten Farben gehaltenes Bild. Der Regen klopfte dumpf gegen die Fensterscheibe. Es regnete jetzt seit einer Woche, nicht übermäßig und nicht ununterbrochen, aber als gleichmäßiges Nieseln, das ein Gefühl von Herbst hinterließ. Vor Mittsommer war das anders gewesen, fast unerträglich heiß, die Leute hatten nach Luft geschnappt und sich beklagt. Dass das Wetter auch nicht Maß halten konnte, entweder war es brennend heiß oder es goss. Ja, so ist es wohl mit dem Leben und der Gesundheit, dachte Bixe, entweder so viel Stress, dass man kaum zum Nachdenken kommt, oder Stille und bohrende Kopfschmerzen. Das Wort mäßig schien nicht mehr zu existieren. Auch bei der Arbeit machte sich das bemerkbar, die Verbrechen wurden immer zahlreicher und raffinierter, ehrliche Schlägereien wichen schweren Misshandlungen, aus Ladendiebstählen und anderem Kleinkram wurden Körperverletzung und Raubüberfall.
Sie führte die Tasse an die Lippen und trank. Das Koffein tat seine Wirkung, und bald fühlte sie sich fast wieder normal. Es pochte nur noch hinter der rechten Schläfe, diesmal würde sie sich also wohl nicht wieder ins Bett legen müssen. Und würde Fia wie verabredet auf dem Marktplatz treffen können. Ihre Tochter brauchte Rat bei irgendeinem Einkauf, es ging um einen Mantel oder so etwas. Nicht, dass Bixe gern in Kleiderläden herumwühlte, aber für ihre jüngere Tochter konnte sie gern einmal eine Ausnahme machen.
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