Anny von Panhuys
Raubvögel über dem Rauneckhof
Frauenroman
Saga
Raubvögel über dem Rauneckhof
© 1953 Anny von Panhuys
Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen
All rights reserved
ISBN: 9788711592274
1. Ebook-Auflage, 2016
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.
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Ilse Rauneck kniete am Bett des sterbenden Vaters.
Ein paar Schritte von ihr entfernt stand der Arzt Dr. Seydel.
Der Sterbende sah und hörte nichts mehr. Vor seinem geistigen Auge hatte sich wohl schon das Tor der Ewigkeit geöffnet, und himmlisches Licht aus den Gefilden der Seligen leuchtete ihm entgegen.
Ilse Rauneck aber konnte und wollte nicht glauben, daß der Vater von ihr gehen mußte, obwohl sie der Arzt schon seit Tagen darauf vorbereitet hatte.
Sie begriff nicht, daß der Vater, der noch vor einer Woche so vergnügt mit ihr ihren einundzwanzigsten Geburtstag gefeiert, sie nun für immer verlassen sollte.
Und kein Wörtchen sprach er zu ihr, keine einzige der vielen Fragen vermochte er ihr mehr zu beantworten, die auf ihrem Herzen brannten.
Der Arzt beobachtete den tief in den Kissen liegenden Herrn des Rauneckhofes aufmerksam. Er wußte genau, nur noch Minuten würden die farblosen Hände über die Bettdecke streichen, nur noch Minuten würde das röchelnde Atmen hörbar sein.
Dr. Seydel dachte, ein guter, anständiger Mensch starb zu früh, viel zu früh. Seine einzige Tochter war eine etwas träumerische Natur, und die Verwaltung des Rauneckhofes eine große und verantwortliche Aufgabe.
Das Röcheln ward lauter, fast überlaut, hörte plötzlich schroff auf. In erhabener Starrheit lag das kräftig geschnittene Gesicht Herbert Raunecks auf dem weißen Linnen.
Ilse erhob sich, wie von einem starken Arm emporgerissen, und wandte sich dem nähertretenden Arzte zu.
„Doktor, lieber Doktor, ich bitte Sie —“
Vor Erregung brach ihr die Stimme und ihr Blick drängte sich durch einen dichten Tränenschleier.
Der Arzt sprach leise: „Ihr Vater ist verschieden, liebe Ilse, Gott gebe seiner Seele die ewige Ruhe.“
Er stand jetzt am Lager und drückte dem Toten die Augen zu.
Er betrachtete dabei das Antlitz des stillen Schläfers, und ihm war es, als läge auf der hohen, geraden Stirn und um den Mund eine letzte bange Sorge. Wahrscheinlich hatte sich, als seine Seele schon hinüberflog in das ferne Land über Wolken und Ätherhöhen, noch ein schmerzlicher Gedanke auf Erden festzuklammern versucht. Der Gedanke, seinem Kinde beistehen zu müssen, seiner über alles geliebten Tochter, die wohl reich war, aber noch so lebensunerfahren.
Ilse Rauneck sagte fast trotzig: „Doktor, lieber Doktor, es kann ja nicht möglich sein, daß Vater tot ist. Vielleicht schläft er nur? Ich meine wirklich, er schläft nur.“ Sie packte ihn am Ärmel. „Doktor, haben Sie doch Erbarmen mit mir.“
Sie neigte sich wie lauschend über den Toten, starrte in sein Gesicht, schrie dann plötzlich auf: „Kein Atemzug mehr, kein noch so schwacher Atemzug!“
Ihre Hände bedeckten die Augen und mit einsinkenden Knien kauerte sie sich vor dem Bett nieder.
Wahnwitzige Angst schüttelte sie mit einem Male. Angst vor dem Weiterleben.
Sie würde ja fortan so mutterseelenallein sein, denn sie besaß auf der weiten Herrgottserde keinen Menschen, der zu ihr gehörte.
Ein leises Wimmern, das zu ihm aufdrang, bewog den Arzt, sich niederzubeugen und Ilse Rauneck sanft die Rechte auf die Schulter zu legen.
„Liebste Ilse, fassen Sie sich. Es ist furchtbar traurig, daß Ihr Vater so früh hat sterben müssen, aber zeigen Sie sich jetzt als seine tüchtige und echte Nachfolgerin. Der Rauneckhof hat seinen Herrn verloren, jetzt sind Sie die Herrin, Pflicht und Arbeit warten auf Sie.“
Ilse Rauneck schüttelte den Kopf.
„Jetzt ist mir alles gleichgültig.“ Sie zuckte hoch, rief laut und gell: „Vater, bitte, wache doch auf, deine Ilse ruft dich!“ Sie bebte wie im Fieber und wiederholte noch lauter: „Vater, wache doch auf!“
Dr. Seydel nahm ihre Hände, legte sie zusammen.
„Beten Sie für die Seele Ihres Vaters, Ilse, aber mühen Sie sich nicht, ihn zurückzurufen. Und wenn Ihre Stimme so stark wäre wie Posaunenton, erreichte der Schall sein Ohr doch nicht mehr. Kommen Sie, bitte, ich führe Sie zu meiner Frau, die ich bat hierherzukommen, um Ihnen in Ihrem ersten herben Schmerz beizustehen.“
„Vater, du geliebter Vater, so höre mich doch!“
Herzzerreißend durchschnitt der Ruf die dumpfe Stille des Totenzimmers und flog hinaus über den breiten, niedrigen Gang, rief das Personal des Rauneckhofes zusammen.
Die alte Köchin Ulrike drückte den Zipfel ihrer blauen Küchenschürze vor die Augen, flüsterte dem Hausmädchen Martha zu: „Nun ist er wohl tot! Und er war doch ein so guter Herr. Warum hat er nur so früh weggemußt? Noch keine fünfzig Jahre ist er gewesen. Aber so eine richtige Lungenentzündung ist was Bitterböses. Gott bewahre uns davor!“ Sie schluchzte: „Und das arme Fräulein Ilse steht nun wie verloren in der Welt. Kaum zu glauben ist es, daß es Menschen ohne jede Verwandtschaft gibt. Ich kann meine gar nicht zählen.“
Dem Doktor, der Ilse schon vom ersten Tage ihres Lebens an kannte, war es gelungen, sie aus dem Sterbezimmer zu entfernen. Er führte sie, die sich wie eine Trunkene von ihm mitziehen ließ, durch mehrere Stuben in das Wohnzimmer.
Seine Frau erhob sich hier von einem Armstuhl. Seine Augen machten ihr ein Zeichen, dann ging er zurück zu dem Toten.
Hermine Seydel trat auf Ilse zu, ihre Arme umschlossen liebevoll die schlanke Gestalt.
„Armes Mädelchen, liebes Ilsekind, bitte, weinen Sie sich aus, das tut wohl.“ Sie preßte den schmalen Kopf mit dem weichwelligen Haar gegen ihre Brust. „Weinen Sie, Liebste. Tränen erleichtern nicht, wenn sie nur in den Augen glänzen. Fließen müssen die Tränen, damit sie das Herz befreien.“
Die weiche sanfte Stimme löste den starren Schmerz, der Ilse wie in einen Panzer hielt, und langsam rollten große Tränen über das schmale, blasse Gesicht.
Frau Hermine Seydel hielt das Mädchen fest umschlungen, flüsterte: „So ist es recht, so ist es gut!“
Immer lauter und verzweifelter wurde das Weinen, und die Frau, der das Scheitelhaar schon silbern über der Stirn lag, geleitete die Weinende zum Sofa, drückte sie darauf nieder, setzte sich neben sie.
Ganz still verhielt sie sich, ließ Ilse Rauneck weinen.
Herbstliches Dämmern drängte sich durch die breiten Fenster des Wohnzimmers und in den Ecken und um die alten Möbel herum, die schon mehreren Generationen treu gedient, ballten sich düstere, geheimnisvolle Schatten zusammen.
Eng aneinander geschmiegt saßen die alte Doktorsfrau und die junge Herrin des Rauneckhofes, und allmählich verklang das Weinen wie in müden Seufzern, die schmerzenden roten Lider schlossen sich über den grauen Augen Ilses und der junge Mund begehrte bitter auf: „Weshalb mußte Vater sterben? Es kommt mir so entsetzlich sinnlos und grausam vor.“
Hermine Seydel strich mit mütterlich beruhigender Bewegung über die im Schoß ruhenden Hände Ilses.
„Nichts, was der Schöpfer tut, ist sinnlos, Kind, nur unser an enge Grenzen gebundener Verstand vermag nicht zu erfassen, warum er dies oder jenes geschehen läßt. Aber seien Sie überzeugt, wir kommen immer am besten weg, wenn wir uns bei allem, was war nicht verstehen und was uns als schweres Schicksal trifft, damit trösten: Was Gott tut, das ist wohlgetan!“
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