Sein Mantel und Hut hingen im Lesezimmer. Er bat: „Gestatten Sie mir, Sie ein Stück zu begleiten, Fräulein von Hahnendorf.“
„Gern“, erwiderte sie einfach. Dann schritten sie nebeneinander her, und Brigitte plauderte von ihrem Zuhause, von der Villa Princesita.
So erreichten sie das Haus, in dem Frau Zinn wohnte, und Brigitte gab Paul Harnisch nochmals die Hand. Es war fast, als wolle ihr der Mann ins Gebäude nachlaufen, als hätte er vergessen, ihr noch irgend etwas zu sagen, was ihm wichtig dünkte, aber dann machte er kehrt. Nein, er wandte sich doch noch einmal zurück und las, was auf dem grossen Kupferschild eingraviert war, das ihm seitlich der Eingangstür aufgefallen war. Da stand:
Kleider, Kostüme, Mäntel
Betty Zinn
Schneidermeisterin
Ob Brigitte von Hahnendorf bei dieser Frau Zinn beschäftigt war?
Er lächelte. Möglich. Aber eigentlich sah sie eher so aus, wie er sich die Mädel und Frauen vorstellte, die nach Rekorden im Reiten und Fliegen strebten, oder die mit Schlittschuhen auf der Eisbahn so sicher tanzten wie vielleicht frühere Solodamen des russischen Hofballetts auf leichten Sandaletten.
Paul Harnisch steckte sich eine Zigarette an. Jetzt hatte er sich wahrhaftig genug mit der hübschen Blonden beschäftigt, und es war Zeit, dass seine Gedanken zu seinem dunkelhaarigen Mädchen zurückkehrten. Am wichtigsten aber war es, an den Juwelier zu denken und an den Smaragd und daran, dass er durch den Stein recht bald zu genügend Geld käme, um sich geschäftlich helfen zu können.
Aus tiefster Verzweiflung hatte ihn das hochherzige Geschenk der alten Frau Gregorius gerissen. Sein Lebenshimmel war nun wieder hell und klar, schnell vorübergezogen waren die finsteren Wolken.
Er pfiff leise vor sich hin und stellte dabei fest, dass er tüchtigen Hunger verspürte. Also wollte er lieber erst frühstücken, ehe er den Juwelier aufsuchte, zu dem er schon gestern um die gleiche Zeit hatte gehen wollen. Gestern hatte er das Essen vor Aufregung über seinen Verlust vollkommen vergessen.
Er sass dann im Frühstückszimmer des Hotels Schütz, und nachdem der Kellner Kaffee, Brötchen, Butter und zwei Eier vor ihn hingesetzt hatte, konnte er es nicht unterlassen, seine wiedererhaltene Brieftasche hervorzuziehen. Ihm fiel ein, dass er bisher noch keinen Blick hineingeworfen hatte, und eigentlich hätte er sich doch in Gegenwart der Finderin überzeugen müssen, ob nichts von dem Inhalt fehlte. Aber auf die Idee war er überhaupt nicht verfallen. Es kommt natürlich immer darauf an, wer der Finder ist. Eine Brigitte von Hahnendorf war glasklar, dachte Paul Harnisch. Sie hatte so etwas, das gab einem den Gedanken ein, alles, was mit ihr zusammenhing, konnte nicht anders als sauber und ehrlich und gut sein. Ein wundervolles Menschenkind! Ihr Inneres musste ihrem Äusseren entsprechen. Er glaubte den Blick der grossen blauen Augen ganz nahe vor sich zu sehen, die reinen Linien des etwas grosszügigen Gesichts, und er glaubte sogar ihre weiche, ein wenig tiefe Stimme zu hören. Seltsam, dass ihm auch Elisabeths hohes Organ dabei einfiel und er unwillkürlich Vergleiche anstellte.
Zum Teufel! Er musste sich wahrhaftig zur Ordnung aufrufen. Solche Vergleiche durfte er nicht anstellen.
Elisabeth war äusserlich völlig verschieden von Brigitte Hahnendorf und besass wohl auch einen ganz anderen Charakter. Aber niedlich und süss war das kleine Weibsbild, und wenn er es in den Armen hielt, dünkte es ihm ein reizvolles Spielzeug.
Ein Spielzeug! Oft hatte er das schon gedacht, aber in diesem Augenblick störte ihn dieses — wenn auch nur gedachte — Wort. Auf das Mädchen, das man heiraten will, darf man das Wort nicht anwenden. Bei Brigitte Hahnendorf wäre er nie auf so etwas verfallen.
Er musste sich zum zweitenmal zur Ordnung rufen, denn er war ja im Begriff, die niedliche Elisabeth in den Hintergrund zu befördern, und eine Fremde, von der er herzlich wenig, richtiger — fast gar nichts wusste, in den Vordergrund seines Denkens zu schieben.
Paul Harnisch öffnete die Brieftasche und ein flüchtiger Blick überzeugte ihn, dass alles darin unberührt war.
Beinahe zärtlich ruhte sein Blick auf dem kleinen flachen Blechkästchen, darin er die beiden Geschenke der alten Frau Gregorius verwahrt hatte, weil das Schmucketui zu breit und hoch für die Brieftasche gewesen war. Er machte es auf, um sich zu freuen an dem Strahlen des Solitärs und an dem tiefgründigen Funkeln des Smaragds.
Die wenigen Frühstücksgäste und der Kellner, der sich eben in Pauls Nähe befand, schauten erstaunt auf den grossen Herrn, der etwas abseits Platz genommen hatte. Er hatte aufgeschrien. Nicht laut, bewahre, nur unterdrückt, so im letzten Moment beherrscht, aber einen Schrei hatte er ausgestossen, das stand fest. Und Paul Harnisch hatte auch Grund dazu, denn in dem kleinen Behälter lag einsam und allein der schmale Brillantring, der viel wertvollere Smaragd leistete ihm keine Gesellschaft mehr.
Der Kellner trat an den Tisch, fragte höflich: „Kann ich Ihnen irgendwie dienen, mein Herr?“
Ein verwirrter Blick traf den Frager, und sofort riss sich Paul Harnisch zusammen, brachte sogar ein Lächeln zustande.
„Danke, ich brauche gar nichts, ich habe mich nur gestossen.“
Er sah dem Kellner an, dass der dachte: ‚Netter Schwachmatikus, dieser grosse Kerl!’
Paul mochte nicht mehr weiter essen; der Appetit war ihm gründlich vergangen. Er steckte die Brieftasche ein, verliess den Frühstücksraum und begab sich nach oben.
Das Mädchen war gerade mit dem Ordnen des Zimmers fertig geworden und stellte verwundert fest, wie erschreckend fahl der Gast von Nr. 28 im Gesicht aussah. So, als hätte er eine ganz schlimme Nachricht bekommen, und der Portier hatte ihr doch vorhin erzählt, der Herr hätte Glück gehabt. Seine Brieftasche, für deren Wiederbringung er zweihundert Mark Belohnung aussetzte, wäre gefunden worden. Froh und zufrieden aber schien er darüber nicht zu sein.
Als sich Paul Harnisch allein im Zimmer befand, musste er sich setzen. Seine Knie waren seltsam weich und kraftlos. Es war ein widerliches Gefühl. Auf dem Tisch leerte er die ganze Brieftasche vor sich aus, öffnete auch das Blechkästchen wieder. Doch so gründlich er alles untersuchte, der Smaragd war nirgends zu finden. Paul sagte sich, dass weiteres Suchen zwecklos wäre, aber er sagte sich auch, wenn Brigitte von Hahnendorf die Brieftasche überhaupt nicht geöffnet hatte, wie sie mehrmals versicherte, könnte der Smaragd nicht fort sein. Wie sie mehrmals versicherte! Wie sie beinah zu betont versichert hatte! drängte es sich ihm mit einem Male förmlich auf.
„Pfui!“ sagte er laut, und das Pfui galt seinem jäh erwachten Misstrauen.
Er erhob sich und lief durch das Zimmer. Hin und zurück, immer wieder hin und zurück. In das Chaos, das jetzt in seinem Kopf herrschte, musste er vor allem erst ein kleines bisschen Ordnung zu bringen versuchen. Das war dringend notwendig, damit er einen Entschluss zu fassen vermochte, was er tun sollte. Sein Gefühl wollte an keine Schuld des blonden Mädels glauben, aber sein Verstand hatte sich von dem Pfui nicht beirren lassen. Der sah die Dinge so: Brigitte Hahnendorf hatte die Brieftasche mit dem Smaragd gefunden, da sie diese aber ohne den Stein abgeliefert hatte, musste sie ihn also behalten haben.
Dem Grübelnden schien die Sachlage jetzt beinah noch schlimmer als sie gestern gewesen war, nachdem er den Verlust der Brieftasche entdeckt hatte.
Brigitte Hahnendorf hatte ihm im Hinblick auf die Brieftasche versichert, sie hätte nicht hineingeschaut, und sie wäre nicht neugierig! Seine Hände ballten sich, es tat weh, wenn man den Glauben an so ein blondes Mädel verlor, das aussah wie die verkörperte Wahrhaftigkeit.
Was sollte er tun? Seine Fahrt hierher hatte unter einem schlechten Stern gestanden. Er erinnerte sich, dass die alte Frau Gregorius erzählt hatte, ihr Mann hätte behauptet, der Stein brächte kein Glück. Beinah konnte er glauben, es wäre etwas Wahres daran.
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