Brigitte schalt ärgerlich: „Jetzt halt doch endlich den Mund, ich muss schlafen! Morgen wartet wieder viel Arbeit auf mich.“
Doch Bianka antwortete vergnügt: „Gestatte wenigstens, dass ich den ersten Vers zu Ende bringe.“ Sie summte weiter, wo sie vorhin aufgehört hatte:
„Die Spanierin kommt in ihr Haus,
Um ein Uhr muss sie wieder hinaus:
In den Park, in den Wald, in die weite Welt,
Irgendwo in ein Grab unterm Himmelszelt.“
Sie sagte plötzlich weich und warm: „Schlaf wohl. Gittalein.“
Die Schwester erwiderte ebenso: „Schlaf auch wohl, Anka.“
* * *
Etwas vor drei Viertel acht betraten Herr von Hahnendorf und Brigitte das Hotel Schütz. Der Portier, ein gewiegter junger Mensch, berichtete strahlend, Herr Harnisch hätte sich gestern abend riesig gefreut über die gute Nachricht, er sitze schon im Lesezimmer und warte. Die Herrschaften möchten die Güte haben, ihm dorthin zu folgen.
Herr von Hahnendorf schien vorerst besonders das Wort Lesezimmer wichtig. Das war ein Ausweg, der ihm gefiel. Denn er dachte an seine Arbeit, dass ihm voraussichtlicher Zeitverlust nicht angenehm wäre, und in einem Lesezimmer konnte Brigitte auch Gott sei Dank einen fremden Herrn aufsuchen.
Er wandte sich erleichtert an seine Tochter:
„Mach du, bitte, alles mit dem Herrn allein ab. Ich möchte nicht gern zu spät kommen, und du brauchst mich ja eigentlich gar nicht. Auch kommt es bei dir im Geschäft nicht so auf die Minute an wie bei mir.“
Er wartete erst gar keine Antwort ab und entfernte sich mit kurzem Gruss.
Brigitte war etwas verblüfft. Sie hatte den Vater bitten wollen zu bleiben, aber es war ihr peinlich gewesen, in Gegenwart des Portiers das ängstliche Küken zu spielen, das sie im Grunde auch gar nicht war. Unangenehm war ihr nur der Punkt der Belohnung. Doch es blieb ihr jetzt nichts weiter übrig, als dem Portier zu folgen.
Er öffnete eine breite Glastür, und beide betraten einen Raum mit sechs Schreibtischen und einem grossen Regal, in dem viele Zeitungen lagen. Nur ein Herr befand sich hier und kam Brigitte schon entgegen.
Sie stellte überrascht fest, dass sich Bianka aber gründlich geirrt hatte. Der Verlierer der Brieftasche war kein vom Alter tappig gewordener Herr, sondern noch jung. Sie schätzte ihn auf allerhöchstens dreissig Jahre.
Der Portier zog sich mit einer Verbeugung zurück; er war hier überflüssig.
Paul Harnisch hatte sich bisher noch keine Gedanken darüber gemacht, wer ihm wohl seine Brieftasche wiederbrächte. Es genügte ihm, dass sie gefunden worden war. Aber jetzt, da er einer so besonders hübschen, und vor allem wie das blühende Leben selbst aussehenden jungen Dame gegenüberstand, legte er etwas Gewicht auf den Umstand, dass die Finderin auch ein vorteilhaftes Äussere besass.
„Mein Name ist Paul Harnisch, mein gnädiges Fräulein,“ stellte er sich vor.
Sie nickte kurz: „Ich bin Brigitte Hahnendorf und fand gestern früh eine braune Brieftasche. Ich nehme an, sie gehört Ihnen, hineingeguckt habe ich nicht. Ich hielt das für überflüssig, weil ich meinen Fund im Laufe des gestrigen Tages auf die Polizei tragen wollte, wo man die Brieftasche ja sowieso untersucht hätte.“ Sie lächelte. „Ich hatte aber gestern den ganzen Tag viel zu tun, dass ich meinen Fund glatt vergass. Abends machte uns dann meine Mutter auf das Zeitungsinserat aufmerksam. So fiel mir erst meine Sünde wieder ein.“
Er bat: „Setzen Sie sich doch wenigstens ein paar Minuten, gnädiges Fräulein,“ und schob ihr einen Stuhl zurecht.
Sie liess sich nieder, und er folgte ihrem Beispiel.
Brigitte wollte den Fund schon aus der Handtasche hervorholen, als er scherzend vorschlug:
„Ein paar Fundbürofragen sollten Sie aber doch stellen, damit ich Sie nicht etwa dadurch reinlege, dass ich Ihnen eine Sache abluchse, die vielleicht einen ganz anderen Besitzer hat. Es könnten doch zufällig an einem Tage zwei Brieftaschen verlorengegangen sein.“
„Das stimmt“, gab sie zu, und sie begriff nicht, warum ihr mit einem Male so richtig vergnügt zumute war. Sie zuckte die Achseln. „Ich habe die Brieftasche auch von aussen nicht allzu genau betrachtet. Es wäre also am einfachsten, wenn Sie mir den verlorenen Gegenstand beschreiben würden. Vielleicht hat er irgend etwas an sich, was besonders bemerkenswert ist.“
Er schaute sie an und dachte unwillkürlich dabei, dass er bisher gar nicht gewusst hatte, dass blaue Augen so wunderschön sein könnten wie die der jungen Dame. Sonderbar, er hatte auch bisher geglaubt, Elisabeths Rehaugen dürften den Vergleich mit jedem Augenpaar aushalten, aber diese blauen Augen waren schöner.
Er schalt sich selbst, solche Dinge zu denken. Das Mädel war wirklich nicht hierhergekommen, damit er sich mit Augenstudien besassen sollte. Paul riss sich zusammen:
„Meine Brieftasche ist dunkelbraun und noch ziemlich neu. Über die Rückseite aber läuft ein breiter, hässlicher Kratzer wie ein heller Strich und — —“
„Schon gut,“ unterbrach ihn Brigitte, „der Kratzer ist mir sofort aufgefallen. Also ... Sie haben den Beweis geführt, dass Sie der Besitzer sind.“
Sie öffnete ihre Handtasche und überreichte ihm den verlorenen Gegenstand, um den er, seit er ihn vermisst, so sehr gebangt. Den ganzen Tag war er deswegen herumgelaufen. Allein dreimal zur Polizei. Und abends hatte er sich dann in eine Wirtschaft gesetzt und ein paar Gläser mehr als nötig getrunken, weil ihm gar zu flau zumute gewesen war. Als er danach ins Hotel zurückkehrte, meldete ihm der Portier ein Herr von Hahnendorf hätte telefonisch mitgeteilt, seine Tochter habe eine braune Brieftasche gefunden.
Er war nun überfroh, sein Eigentum wiederbekommen zu haben. Allerdings, zweihundert Mark kostete seine Nachlässigkeit, mit der er die Brieftasche neben, statt in die Futtertasche seines Mantels gesteckt hatte, den er nicht zuknöpfte. Zum Glück hatte er gestern früh bei der Abreise sein ganzes derzeitiges Vermögen, das dreihundert Mark betrug, mitgenommen.
Er schob einen Briefumschlag in Brigittes Handtasche, und die junge Dame, der es auf den Lippen lag abzuwehren: ‚Bitte, behalten Sie das Geld!’ dachte an Bianka und glaubte zu hören, wie sie gestern abend gesagt hatte: ‚So’n Quatsch, die Belohnung steht dir zu, du Prinzessin auf der Erbse!“
Recht hatte Bianka, das sah Brigitte ein. Und so bestätigte sie den Empfang der Belohnung mit einem halblauten Dank.
„Ich habe Ihnen zu danken, gnädiges Fräulein.“
So voll Wärme war seine Stimme, dass Brigitte heimliches Bedauern spürte, weil sie einander wahrscheinlich niemals wiedersehen würden. Und gerade da fiel ihr auch der einfache Goldreif auf, den er an der linken Hand trug. Also war der Träger des Ringes verlobt. Wie leichte Traurigkeit legte es sich über ihre Gedanken, und sie erhob sich etwas hastig.
„Ich muss mich jetzt verabschieden. Wir fangen im Geschäft um acht Uhr an, wenn viel zu tun ist, und es ist schon eine Viertelstunde darüber.“
Er hätte gern gewusst, um was für ein Geschäft es sich handelte, in dem das frische blonde Mädel tätig war, aber er wagte keine Frage, sondern bat nur:
„Geben Sie mir die Hand und lassen Sie mich nochmals meinen herzlichen Dank aussprechen. Sie konnten mir einen wichtigen und grossen Dienst leisten. Ich will Ihnen eingestehen, wenn die Brieftasche in die Hände eines unehrlichen Menschen gefallen wäre, sähe meine nächste Zukunft jetzt sehr trübe aus.“ Er lächelte. „Ich bewundere besonders, dass Sie Ihren Fund gar nicht näher untersuchten, ich hielt bisher alle Frauen für neugierig, gnädiges Fräulein.“
Sie schüttelte den Kopf: „Ich bin im allgemeinen nicht neugierig, und ... bitte, aus der Anrede ‚gnädiges Fräulein’ mache ich mir nicht das mindeste. Ich höre mich lieber beim Namen nennen.“
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