Hätten wir ihr vorschnell alle Schritte abgenommen, hätten wir sie in ihrer Opferrolle bestärkt und ihr die Botschaft vermittelt, dass sie selbst hilflos ist und bleibt, solange wir ihr nicht helfen. So aber lernte sie, dass Gott ihr Möglichkeiten gibt, auf eine schwierige Situation selber Einfluss zu nehmen. Sie konnte für ihre Gefühle und ihre Schwierigkeiten Verantwortung übernehmen und Schritte tun, damit eine Veränderung geschah. Das stärkte ihr Selbstvertrauen und ließ sie spüren, dass Gott ihre mutigen Schritte bestätigt und segnet.
Ich glaube, dass Gott in einer ähnlichen Weise mit uns Menschen umgeht. Er ist unser Vater und das bedeutet, dass er uns noch weit mehr wertschätzt und uns noch viel mehr zutraut als wir unseren eigenen Kindern. Gott trainiert uns zu Menschen, die aktiv und stark sein können. Zu Menschen, die selbstverantwortlich handeln, planen, entscheiden, wirken können und nicht ständig davon abhängig bleiben, dass andere, oder Gott, das Leben für sie meistern. Als ein Gelähmter zu Jesus kam und ihn um Heilung bat, da tat Jesus für ihn das, was er selbst nicht tun konnte. Er heilte seinen lahmen Körper. Und dann sagte er zum Geheilten: »Ich befehle dir: Steh auf, nimm deine Matte und geh nach Hause!« (Markus 2,11). Unmittelbar nach der Heilung hat Jesus diesem Menschen Verantwortung übergeben. »Geh, melde dich zurück im Leben und in deiner Familie! Geh, sorge wieder für deinen Lebensunterhalt. Arbeite, versorge deine Familie, erziehe deine Kinder. Geh, ich ermächtige dich, wieder Verantwortung zu tragen und eine reife, eigenständige Persönlichkeit zu werden!« Jesus befreite diesen Menschen aus seiner Opferrolle und aus seiner Willensschwachheit.
Menschen in der Opferrolle gelten oft als willensschwache Menschen. Rudolf Dreikurs sagte sinngemäß: »Es gibt keine willensschwachen Menschen. Wer nichts will, der will gar nicht wollen.« Willensschwache Menschen wollen oft einfach nur Fehler vermeiden oder den Widerspruch anderer. Verantwortung übernehmen heißt: Mut zu Fehlern haben.
Verantwortung übernehmen hat viel mit Einsicht zu tun, die Gott uns im Blick auf unser Leben schenkt. Und mit einem angemessenen Verständnis dafür, wie Gottes Rolle in meinem Leben aussieht. Es geht darum zu lernen, dass Gott gerne bereit ist, einen bestimmten Weg für uns vorzubereiten. Dann aber sind wir selbst verantwortlich, uns auf diesen Weg zu begeben und ihn zu gehen. Wenn wir also mit den unangenehmen Gefühlen und Prägungen unserer Seele oder mit aktuellen Schwierigkeiten konfrontiert sind, dann traut uns Gott zu, dass wir einen entscheidenden Teil der Lösung dieser Probleme sein können.
John Townsend und Henry Cloud schreiben: »Die Person, die unter einer Situation leidet, ist für eine Lösung verantwortlich.« 10Das gilt auch dann, wenn sie das Problem nicht selbst verursacht hat. Wenn wir uns unseren Problemen stellen und Verantwortung übernehmen, macht uns das handlungsfähig. Es macht unserer Opferrolle ein Ende. Wir können Initiative übernehmen! Schuldzuweisung und Schuldabweisung sind wie ein Fluch, der uns selbst kaputtmacht. Es führt nie zu einer Verbesserung der Situation, sondern hält uns vielmehr darin gefangen.
Wir haben darüber gesprochen, weshalb und inwiefern wir für unsere Gefühle unter der Oberfläche unseres Lebens und die damit verbundenen Schwierigkeiten selbst Verantwortung übernehmen sollen. Abschließend möchte ich anhand von drei Beispielen skizzieren, wie die Übernahme von Verantwortung in unserem Alltag konkret aussehen könnte.
Als ich vor einigen Jahren an die Grenzen meiner physischen und psychischen Belastbarkeit kam, war die Versuchung groß, die Gründe dafür in meinen damaligen Lebensumständen zu suchen. Insgeheim gab ich die Verantwortung für meine Überforderung den damaligen Gegebenheiten: die Art meiner Arbeit, die eine ständige Reisetätigkeit und intensive Vorbereitungen für verschiedene Seminare beinhaltete; die Lage meines Büros, die ein ungestörtes Arbeiten schwierig machte; unsere kleine Wohnung und das Leben in einer Wohngemeinschaft, die mir kaum Rückzugsmöglichkeiten gaben; unsere anstrengenden kleinen Kinder, die fast ununterbrochen unsere Aufmerksamkeit erforderten. Sicherlich haben diese Faktoren dazu beigetragen, dass ich an meine Grenzen kam, aber sie waren nicht die eigentlichen Ursachen. Diese lagen viel tiefer, in mir selbst. Ich hatte mich selbst überfordert. Die Situation, in der ich war, war die Folge von Entscheidungen, die ich selbst getroffen hatte. Und sie war die Folge falscher Motive und Denkmuster, die mich prägten.
Der mutige Blick unter die Oberfläche meines Lebens ergab ein ernüchterndes Bild: In mir war die leise Angst, unbedeutend zu sein. Ein wichtiger Motor meines Arbeitens war die Sehnsucht nach Anerkennung und Bestätigung. Das führte dazu, dass ich kaum Grenzen anerkannte und mich selbst andauernd überforderte. Es war schmerzhaft, aber ich musste für diese Gefühle und inneren Überzeugungen persönlich die Verantwortung übernehmen. Denn hier lagen die eigentlichen Wurzeln für meine Schwierigkeiten. Verantwortung übernehmen hieß damals für mich, meinen unbewussten Treibern und Motiven mithilfe von Freunden und Beratern auf die Spur zu kommen. Ich musste Gottes heilende, verändernde Berührung für meine tiefsten Gefühle, Motive und Überzeugungen zulassen. Auch bedeutete es, mein Leben und meine Arbeit neu zu ordnen. Ich musste lernen abzuschalten. Ich musste lernen, zu Grenzen zu stehen. Ich musste Zeiten des Auftankens, der Stille, der Erholung einplanen. Ich musste lernen, meine Verantwortung in der Familie neu wahrzunehmen und ihr nicht zu entfliehen. Diese Schritte konnte mir niemand abnehmen. Ich musste sie selbst wollen. Ich musste für meine Gefühle und die daraus resultierenden Probleme mit Gottes Hilfe konkrete Lösungen erarbeiten.
Auch wenn es in einer Ehebeziehung Schwierigkeiten gibt, geht es darum, Verantwortung zu übernehmen. Seit einigen Wochen kam Theresa regelmäßig zu mir in die Beratung. In ihrer Ehe kriselte es seit Monaten. Ihr Mann hatte eine leitende Position in einer Firma. Er machte viele Überstunden und kam oft erst spätabends nach Hause. Theresa war mit ihren vier Kindern oft allein. Sie versorgte die Familie, den Haushalt, unterstützte die Kinder bei ihren Hausaufgaben und hatte einen großen Garten. Mehr und mehr wuchs ihr alles über den Kopf. Seit einiger Zeit plagten sie Rückenschmerzen. Gleichzeitig litt sie darunter, dass sich ihr Mann emotional aus der Familie zurückzog. Er war unnahbar, erzählte kaum etwas von sich und überließ alle wichtigen Entscheidungen, welche die Erziehung der Kinder betrafen, seiner Frau.
Als mir Theresa ihre Situation schilderte, spürte ich bald, dass sie ganz bestimmte Erwartungen an mich hatte. Es stellte sich heraus, dass sie sich eigentlich zwei Dinge von mir erhoffte. Zum einen sollte ich mit ihrem Mann sprechen und ihm zu verstehen geben, dass er sich falsch verhielt. Und sie wollte von mir erfahren, wie sie von Gott mehr Kraft bekommen konnte, um ihre Situation zu ertragen. Ich musste sie in beiden Erwartungen enttäuschen. Ich versuchte, Theresa zu helfen, ihre eigene Verantwortung in dieser Situation zu erkennen und sie nicht auf ihren Mann oder auch auf mich als ihren Berater abzuschieben. Denn dann würde sich ihre Situation kaum verändern. Es gab nur eine Person, auf die sie wirklich Einfluss hatte und die sie verändern konnte, und das war sie selbst.
Wir hatten mehrere Gespräche, bis ich den Eindruck hatte, dass Theresa begann, Verantwortung zu übernehmen. So bat sie ihren Mann, mit ihr zusammen einen Eheberater aufzusuchen, was ihr Mann zuerst kategorisch ablehnte. Ich ermutigte Theresa, nicht aufzugeben. Schließlich tat sie einen mutigen Schritt. Sie bat ihren Mann, eine Entscheidung zu treffen, und drückte den Wunsch aus, mit ihrem Mann das Leben und die Lasten des Alltags und der Familie gemeinsam zu teilen. Er sollte sich überlegen, ob er das auch wollte. Falls er dazu nicht bereit war, dann würde sie darüber nachdenken, welche Konsequenzen das für ihr Leben und das ihrer Kinder haben würde. Sie machte deutlich, dass sie die jetzige Situation emotional und auch gesundheitlich nicht mehr tragen konnte und wollte. Darum bat sie ihn um eine Entscheidung. Falls er weiterhin passiv bleiben und sich zurückziehen würde, dann würde sie entsprechende Schritte gehen, um sich selbst und das Leben ihrer Kinder zu schützen. Damit versuchte sie, ihm zu zeigen, wie ernst die Lage war und dass sie gewillt war, nicht einfach passiv zu bleiben und still zu hoffen, dass sich etwas ändern würde. Sie drückte aus, dass sie gerne mit ihrem Mann das Leben teilen wollte und dass sie ihn liebte. Damit dieser Wunsch in ihrem Leben erfüllt wurde, war sie auf seine Kooperation angewiesen.
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