In der Vergangenheit haben viele Christen aus verschiedenen Gründen solche Fragen aus ihrer Beziehung mit Gott ausgeklammert. Auch heute scheuen viele Glaubende den Blick unter die Oberfläche ihres eigenen Lebens. Diese Menschen verfügen über keine oder nur eine geringe Selbstwahrnehmung. Sie verdrängen die Auseinandersetzung mit dem, was sie treibt, was ihnen Angst macht und wo sie Probleme haben. Manche haben ihr Christsein auf »Autopilot« gestellt. Sie absolvieren mehr oder weniger mechanisch ihr religiöses Programm: Gottesdienst, Mitarbeit, Hauskreis, Konferenzbesuch usw. Sie sind viel zu beschäftigt, um sich die Zeit zu nehmen und darüber nachzudenken, was innerhalb und außerhalb ihres Lebens tatsächlich abläuft.
Wenn aber der Moment kommt, an dem wir uns ehrlich auch dem stellen, was unter der Oberfläche unseres Lebens geschieht, dann können uns solche Fragen, wie ich sie oben formuliert habe, weiterhelfen.
Wagen wir einen weiteren Schritt. Auch hier geht es um ein paar Fragen, denen wir uns stellen können:
• Haben Sie sich schon einmal gefragt, warum Sie ständig zu spät kommen (falls das auf Sie zutrifft)? Oder weshalb Sie so zwanghaft pünktlich sein müssen und in Panik geraten, wenn es so aussieht, als würden Sie es diesmal nicht schaffen?
• Haben Sie in der jüngeren Vergangenheit erlebt, dass Sie die Bemerkung eines Mitmenschen sehr verletzt hat? Was war es, das diese Bemerkung für Sie so verletzend gemacht hat?
• Hat man Ihnen vor Kurzem ein Feedback gegeben, das Sie aufgewühlt hat? Warum reagieren Sie so stark darauf, wenn Ihnen jemand eine ehrliche Rückmeldung darüber gibt, wie er Sie erlebt?
• Gibt es Personen in Ihrem persönlichen Umfeld, denen Sie seit mehreren Tagen oder sogar seit Wochen aus dem Weg gehen? Weshalb? Was befürchten Sie im Blick auf eine mögliche Begegnung? Welche Gedanken und Gefühle haben Sie, wenn Sie an diese Person denken?
• Gibt es eine vor Ihnen liegende Begegnung oder ein Gespräch, vor dem Sie große Angst haben? Was, befürchten Sie, könnte dort geschehen?
• Gibt es Menschen, über deren Verhalten Sie sich ärgern, bei denen Sie sich aber dennoch scheuen, sie offen mit ihrem Verhalten zu konfrontieren?
• Bemühen Sie sich immer wieder in Ihrem Leben, möglichst zu verhindern, dass irgendjemand etwas Negatives über Sie denken oder sagen könnte?
Vielleicht ist der Moment gekommen, an dem Sie ein paar Minuten innehalten, ein Blatt Papier und Schreibzeug zur Hand nehmen und einige dieser Fragen ganz ehrlich beantworten. Schreiben Sie keine schönen oder gar frommen Antworten auf, die nicht wirklich das wiedergeben, was in Ihnen ist (dazu neige ich oft bei solchen Übungen). Seien Sie ungeschützt ehrlich. Gott weiß ja um Ihre wirklichen Gedanken und Gefühle. Er kannte sie schon, als Sie sich ihrer noch gar nicht bewusst waren. Ihn überrascht nicht, was da aus Ihrem Inneren zum Vorschein kommt. Es muss Ihnen darum nicht peinlich sein, wenn die Wahrheit ans Licht gelangt. Gott trägt und erträgt Sie schon längst mit all Ihren guten und unguten Seiten, mit allen gesunden und kranken Regungen in Ihrer Seele. Wenn er Sie damit annimmt, können Sie es selbst auch tun. Darum: Seien Sie ehrlich. Schauen Sie den Eisberg, wie er sich unter der Oberfläche präsentiert, ruhig an und vertuschen Sie dabei nichts. Es würde Sie nur daran hindern, auf dem Weg zur ganzheitlichen Reife vorwärtszukommen.
Eine ehrliche Antwort auf solche oder ähnliche Fragen bringen uns in den direkten Kontakt mit den Gefühlen und Überzeugungen, welche solche wie die beschriebenen Situationen in uns wachrufen. Sie macht uns bewusst, dass es da in uns Dinge gibt wie Ärger, Ängste, Schuldgefühle, Hass, Versagergefühle, Eifersucht, Stolz, Perfektionismus usw.
Wenn Sie sich dieser Gefühle bewusst werden, dann gehen Sie damit zu Gott und fragen Sie ihn: Was möchtest du, mein Gott, mir dazu sagen? Wie möchtest du diesen Gefühlen in mir begegnen? Was möchtest du erneuern oder verändern?
Vielleicht wollen Sie dieses Gebet einige Tage oder Wochen beten, bis Gott Ihnen zu erkennen gibt, wie seine Antwort aussieht. Denken Sie daran: Gott hat Zeit und Geduld. Er geht sehr behutsam vor, denn er überfordert uns nicht. Er wartet den Moment ab, an dem wir wirklich offen und bereit sind, uns von seiner Liebe berühren und umgestalten zu lassen.
Eines dürfen Sie wissen: Gott wartet darauf, dass er Ihnen zeigen darf, wo er Ihr Herz berühren und verändern möchte. Die Antworten, die Sie sich auf die oben gestellten Fragen notieren, sind darum wichtige Signale Ihrer Seele, welche Ihnen zuruft: »Ich, deine Seele, brauche an dieser Stelle Hilfe! Ich brauche es, dass du Gott die Erlaubnis gibst, diese Stelle zu berühren und zu erneuern!«
Ich möchte hinzufügen, dass Sie einen solchen Prozess nicht allein durchlaufen sollten. Denn er kann schmerzhaft sein. Es besteht die Gefahr, dass Sie sich darin selbst verurteilen und aufgrund der unschönen Entdeckungen unter der Oberfläche Ihres Lebens entmutigt sind. Es kann auch sein, dass Sie sich selbst etwas vormachen und, statt Gottes Erneuerung zuzulassen, eine billige Reparatur vornehmen, ohne die tatsächlichen Ursachen Ihrer Fehlhaltungen zu korrigieren. Suchen Sie sich deshalb einen kompetenten Lebensberater und Seelsorger. Am besten nicht nur einen, der Ihnen ein paar Trostpflaster verteilt, sondern der Sie liebevoll herausfordert, sich der Wahrheit zu stellen, wie sie sich unter der Oberfläche Ihrer Seele präsentiert.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich selbst den Mut und die Kraft gehabt hätte, diesen riskanten Blick unter die Oberfläche zu wagen, wäre da nicht ein beharrlicher und zugleich verständnisvoller Lebensberater gewesen, der nicht damit aufhörte, mir die richtigen Fragen zu stellen. Er ließ nicht locker, bis ich beim Namen nannte, was sich im Tiefsten meiner Seele tummelte. Es war wie eine Operation. Es war zeitweise schmerzhaft und unangenehm. Aber auf lange Sicht unglaublich befreiend!
Warum sich der ehrliche Blick nach innen lohnt
Ich habe erwähnt, dass der ehrliche Blick unter die Oberfläche des Eisbergs in unserem eigenen Leben fast immer ein herausfordernder Weg ist. Ich möchte zwei Gründe nennen, warum es sich jedoch unbedingt lohnt, den Blick unter die eigene Oberfläche zu wagen.
Es lohnt sich erstens, weil Gott schon alles von mir weiß und mich trotzdem liebt. Lassen Sie sich das neu durch die Worte aus Psalm 139 bestätigen: »HERR, du durchschaust mich, du kennst mich bis auf den Grund« (Vers 1). Gott hat schon immer gewusst, was in Ihnen ist. Er kennt jedes Detail der Eisbergmasse, die bei Ihnen unter der Oberfläche ist. Eugene Peterson übersetzt in seiner modernen Bibelübertragung »The Message« diese Stelle folgendermaßen: »Ich bin für dich wie ein offenes Buch.« Wir brauchen Gott nichts vorzumachen. Er, der alles von Ihnen weiß, ist zugleich derjenige, der Sie liebt wie kein anderer.
»Ob ich sitze oder stehe, du weißt es, du kennst meine Pläne von ferne« (Vers 2). Es gibt keine bewussten oder unbewussten Absichten in Ihrem Leben, ob gut oder schlecht, mit denen Gott nicht schon lange vertraut ist. Nichts hält ihn davon ab, Sie dennoch ungebrochen zu lieben.
»Ob ich tätig bin oder ausruhe, du siehst mich; jeder Schritt, den ich mache, ist dir bekannt. Noch ehe ein Wort auf meine Zunge kommt, hast du, HERR, es schon gehört. Von allen Seiten umgibst du mich, ich bin ganz in deiner Hand« (Verse 3-5). So wie Sie sind, mit allem, was in Ihnen ist, trägt und erträgt Sie Gott. Er verdammt Sie nicht für die dunklen Wahrheiten in Ihrer Seele. Seine Liebe schafft einen sicheren Rahmen, damit Sie sich der Wahrheit über sich selbst stellen können.
»Dass du mich so durch und durch kennst, das übersteigt meinen Verstand; es ist mir zu hoch, ich kann es nicht fassen. Wohin kann ich gehen, um dir zu entrinnen, wohin fliehen, damit du mich nicht siehst?« (Verse 6-7). Wir brauchen keine Angst zu haben. Gott ist nicht überrascht über das, was ans Licht kommt. Es ist schon alles in seinem Licht. Sie brauchen ihm nur noch die Erlaubnis zu geben, Sie an diesen Stellen zu berühren und zu verändern. Alles, was Sie zu tun brauchen, ist, ihn an diese Bereiche heranzulassen.
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