Menschen, die keine Verantwortung übernehmen, geben im Konfliktfall anderen die Schuld und sind blind für ihren eigenen Anteil. Es ist nicht nur so, dass sie ihren eigenen Anteil an einer Misere verdecken, oft sind sie sich ihres eigenen Anteils gar nicht bewusst. Es gibt keine Heilung und keine Veränderung, wenn wir für unsere tiefsten Gefühle, Gedanken und Motive keine Verantwortung übernehmen.
Ein Drückeberger namens Adam
Die Bibel thematisiert das Phänomen der abgeschobenen Verantwortung schon auf ihren ersten Seiten. Adam und Eva verstoßen gegen die Anordnung Gottes, von einem einzigen Baum im Paradies keine Früchte zu essen: vom Baum in der Mitte des Gartens. Dem Teufel gelingt es, in Eva Misstrauen gegenüber Gott zu wecken, der ein solch unsinniges Verbot ausgesprochen hat. Eva isst von der Frucht und auch Adam lässt sich dazu verleiten. Kurze Zeit später spricht Gott die beiden auf ihren Verstoß an:
Aber Gott rief nach dem Menschen: »Wo bist du?« Der antwortete: »Ich hörte dich kommen und bekam Angst, weil ich nackt bin. Da habe ich mich versteckt!« »Wer hat dir gesagt, dass du nackt bist?«, fragte Gott. »Hast du etwa von den verbotenen Früchten gegessen?« Der Mensch erwiderte: »Die Frau, die du mir an die Seite gestellt hast, gab mir davon; da habe ich gegessen.« Gott, der Herr, sagte zur Frau: »Was hast du da getan?« Sie antwortete: »Die Schlange ist schuld, sie hat mich zum Essen verführt!«
1. Mose 3,9-13
In dieser Geschichte haben wir die Urform der verweigerten Verantwortung vor uns. Zuerst beginnt Adam, die Verantwortung abzuschieben und sich in die Opferrolle zu begeben: »Die Frau, die du mir an die Seite gestellt hast, die ist schuld. Sie hat mir die Frucht unter die Nase gehalten! Und so habe ich halt davon gegessen.« Gott wendet sich Eva zu und sie verfährt genauso: »Nicht ich; nein, die Schlange ist schuld. Sie hat mich mit ihren Worten betört und zum Essen verführt!«
Beide, Adam und Eva, entziehen sich vehement jeder eigenen Verantwortung für das, was vorgefallen ist. Ich frage mich oft: Was wäre wohl geschehen, wenn Adam und Eva an dieser Stelle zu einem ehrlichen Eingeständnis ihrer Schuld bereit gewesen wären? Was wäre passiert, wenn sie vor Gott Reue gezeigt und ihn um Vergebung für ihren Fehler gebeten hätten? Hätten sie von Gott nicht die Chance zu einem Neuanfang bekommen? Wie oft lesen wir in der Bibel, dass Gott dort gnädig ist und seinen Zorn abwendet, wo Menschen für ihr Fehlverhalten Verantwortung übernehmen und um Vergebung bitten. Adam und Eva tun es nicht und ernten die ernste Konsequenz ihres Verhaltens.
Wofür wir selbst verantwortlich sind
Schauen wir die Sache mit der Verantwortung genauer an: Wofür sind wir Menschen verantwortlich und wofür nicht? Wir sind verantwortlich für unsere Handlungen. Wir sind verantwortlich für unsere Worte. Und – hier beginnt die Herausforderung – wir sind verantwortlich für die Gefühle, Motive, Gedanken und Regungen unseres Herzens. Wir sind selbst dann für sie verantwortlich, wenn es so aussieht, als wären andere Menschen die Verursacher unserer Schmerzen, Verletzungen und aufgebrachten Gedanken. Diesen letzten Punkt anzuerkennen fällt besonders vielen Menschen schwer. Wir müssen uns deshalb etwas eingehender damit beschäftigen.
Wir sind verantwortlich für unsere Reaktionen auf das, was uns geschieht oder was uns jemand antut. Wir sind nicht für das verantwortlich, was uns geschieht, sondern nur für das, wie wir darauf reagieren.
Diese hilfreiche Definition stellt Stephen R. Covey in seinem Buch »Die sieben Wege zur Effektivität: Ein Konzept zur Meisterung Ihres beruflichen und privaten Lebens« vor. Wir sind verantwortlich für unsere Reaktionen auf die Dinge, die uns zustoßen. Das umfasst unsere seelischen Verletzungen, unsere Enttäuschungen, unseren Ärger, unser Gefühl, übergangen oder falsch behandelt worden zu sein. Wie auch immer unsere Seele die Ereignisse, die wir erleben, verarbeitet und interpretiert – es ist unsere Seele, die so reagiert und nicht anders. Deshalb müssen wir Verantwortung übernehmen.
Eleanor Roosevelt sagte es so: »Niemand kann uns ohne unsere Zustimmung wehtun.« Es ist nicht in erster Linie so, dass uns eine Person mit ihren Worten oder ihrem Verhalten verletzt; wir sind es, die sich verletzen lassen. Wenn wir auf eine bestimmte Situation verärgert, verletzt oder beleidigt reagieren, dann erliegen wir dabei dem, was Anthropologen und Psychologen den »genetischen Determinismus« nennen: Ein Reiz wirkt auf uns ein (zum Beispiel lieblose Worte eines Arbeitskollegen). Wir reagieren auf diesen Reiz (zum Beispiel, indem wir uns verletzt fühlen, uns rechtfertigen oder zum Gegenangriff übergehen). Wer ist für das Problem, das entstanden ist, verantwortlich? »Natürlich der Verursacher; die Person, die mich angegriffen hat!«, sagen wir. Das ist falsch. Der Verursacher dieses Problems käme bei mir nämlich nicht ans Ziel, wenn ich nicht entsprechend darauf reagieren würde. In einer solchen Situation wird es uns zum Verhängnis, dass wir darauf trainiert sind, auf eine bestimmte Weise gegenüber gewissen Reizen und Vorkommnissen zu reagieren. Unbewusst denken wir, wir können nicht anders. Aber genau diese Annahme ist eine Lüge, denn sie erlaubt uns, uns selbst als Opfer der Situation zu sehen.
Wenn wir wollen und die Weichen dafür stellen, dann können wir anders reagieren, als wir es uns angewöhnt haben. Diese Fähigkeit gehört zu den Grundausstattungen Gottes für unser Leben: Wir haben in einem gewissen (wenn zugegebenermaßen auch nicht in einem unbeschränkten) Maß die Freiheit und die Kraft, unsere Reaktionen selbst zu bestimmen. Wie unsere Seele auf Ereignisse des Lebens reagiert, ist nicht unabwendbar und unveränderbar. Stephen Covey schreibt: »Es ist nicht das, was uns geschieht, sondern die Art, wie wir darauf reagieren, die uns verletzt.« 7
Wenn wir es Umständen, anderen Menschen und unseren Gefühlen erlauben, unsere Reaktionen zu kontrollieren, dann ist das ein Ausdruck davon, dass wir unsere Verantwortung für sie abgegeben haben. Wir haben ihnen die Macht und die Erlaubnis gegeben, mit uns zu tun, was sie wollen. »Menschen, die nicht vergeben können, erlauben anderen, sie zu kontrollieren«, betonen beispielsweise die Autoren und Berater Henry Cloud und John Townsend. 8
Menschen, die das Opfer ihrer eigenen Reaktionen auf bestimmte Umstände geworden sind, sind Menschen, die sich drücken. Sie drücken sich vor der Aufgabe, angemessen und verantwortlich zu reagieren. Sie lehnen so ihre Verantwortung ab und machen sich selbst zu Opfern. In einem solchen Fall sind nicht sie das Opfer, sondern der eigentliche Täter. Opfer sind in vielen Fällen verkappte Tyrannen.
Das Wissen darum, dass wir in den meisten Fällen, in denen wir uns als Opfer fühlen, gar nicht wirklich die Opfer sind, ist sehr befreiend. Es eröffnet uns eine Perspektive, in der sich für uns Handlungsspielraum ergibt. Wären wir nichts anderes als ein Opfer, dann gäbe es für uns nur die Option, unser Schicksal zu beklagen und anderen die Schuld dafür in die Schuhe zu schieben. Doch wir können mit der Unterstützung des Heiligen Geistes aktive Schritte tun. Er hilft uns dabei, Fehler, ungesunde Entwicklungen in unserem Leben, verletzte Gefühle, Angst und Ärger anzuerkennen, aus ihnen zu lernen und sie zu korrigieren. Covey schreibt: »Wenn ich wirklich meine Situation verbessern will, kann ich an der einen Stelle anfangen, über die ich wirklich Kontrolle habe – bei mir selbst.« 9Darum ist es wichtig, nach dem ehrlichen Blick unter die Oberfläche unseres Lebens genau das zu tun. Wir suchen nicht den Schuldigen für die negativen Regungen, die sich in uns tummeln. Wir beginnen bei der Person, auf die wir den größten Einfluss haben: bei uns selbst.
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