»Muß das sein?« fragte Salewsky, schon auf dem Rückzug.
»Sollen wir riskieren, daß der Mann im gleichen Zustand aufgefunden wird wie die beiden Opfer von der Zeil?«
»Um Gottes willen«, entsetzte sich der Karrierist aus Pullach. »Aber Parker ist sehr schwierig.«
Blaurocks Gesicht wirkte belustigt.
»Treten Sie dem Kamikaze ordentlich in den Hintern«, versetzte der Kriminaldirektor. »Wenn er dann nicht spurt und deshalb hopsgeht, sind wir wenigstens nicht schuld daran.«
»Das mag sein«, warf der Ostasien-Dezernent ein, »aber das bringt uns auch keinen Schritt weiter.«
»Sie sind damit einverstanden, daß künftig ausschließlich Kollege Blaurock nach meinen Direktiven die Vorgänge um Latzke, Liebkind und Babinsky untersucht?« schloß Kudemann die Debatte.
»Ja, schon – aber wie lange kann das dauern, wir wollen doch nicht so viel Zeit …«
»Das weiß ich nicht«, unterbrach der HOKO-Chef. »Vielleicht nur ein, zwei Tage. Es soll keine Angeberei sein«, fuhr er versöhnlicher fort, »aber wir haben nun mal die größere Erfahrung.«
»Sicher«, räumte der schöne Maximilian ein, »aber ich habe im Entwicklungsdienst bereits in Indien und Indonesien mit Pullacher Agenten nachrichtendienstlich zusammengearbeitet«, entgegnete Salewsky. »Ich bin nicht so unbeleckt, wie Sie annehmen.«
»Das ist mir neu«, antwortete Kudemann überrascht.
»Mir auch«, sagte Blaurock.
»Dann werden wir künftig keine Schwierigkeiten mehr miteinander haben«, konstatierte der HOKO-Chef mit einer Spur von Spott.
Die Besprechung zog sich in die Länge. Der schöne Maximilian sah immer wieder auf seine Armbanduhr.
»Sind Sie in Eile?«
»Ja, ich werde heute noch bei einem Empfang im Aquarium der Münchener Residenz erwartet.«
»Gehen Sie meinetwegen ruhig schwimmen«, versetzte Kudemann, »aber nicht baden«, verabschiedete er Salewsky lachend. »Roland Blaurock und ich haben noch eine lange Nacht vor uns.«
Salewsky verabschiedete sich.
»Den hast du ja ganz schön kleingekriegt, Felix«, sagte Blaurock lachend.
»Wenn du willst, kann ich ihn ablösen lassen.«
»Das will ich nicht – zumindest so lange nicht, bisich mit Latzke gesprochen habe.«
Kudemann betrachtete ihn fragend.
»Ich habe Taifun I in den Anfängen mit vorbereitet«, erklärte er. »Dann fuhr ich fünf Wochen in Urlaub – mußte einmal sein nach drei Jahren – als ich zurückkam, hatte Salewsky den großen Macher gespielt und die Operation anlaufen lassen.«
»Eine Art Ejaculatio praecox«, erwiderte der Kriminalist sarkastisch.
»Deshalb wurde ich bei der Untersuchung des Falls nicht eingeschaltet. Vermutlich hätte sich im Handumdrehen herausgestellt, welchen Mist der schöne Maximilian gebaut hat. Übrigens höre ich zum erstenmal von dieser angeblichen Zusammenarbeit mit unseren Leuten im Entwicklungsdienst. Ich werde dieser Behauptung nachgehen, sobald ich im Camp bin.«
»Tu das, Roland«, antwortete Kudemann.
Seine Sekretärin stellte am späten Nachmittag einen Anruf der Frankfurter Mordkommission durch.
»Was Neues, Müllner?« fragte er den Hauptkommissar und drehte am Gerät den Lautsprecher auf, damit Blaurock das Gespräch mithören konnte.
»Ja«, erwiderte Müllner. »Sind Sie eigentlich Hellseher, Herr Kriminaldirektor?«
»Lassen Sie es mich versuchen«, ging der HOKO-Chef auf den Ton des Anrufers ein. »Sie haben Dschingis-Khan gefunden. Und zwar verstümmelt.«
»Richtig. Der Chef einer Privatklinik hat sich an das Polizeipräsidium gewandt, weil ihm die Sache faul vorkommt: Ein Chinese, der radebrechend angab, ihm sei bei einer Schlägerei das linke Ohr abgerissen worden, liegt bei ihm auf der Station. Es handelt sich bei der Verletzung einwandfrei um eine Schnittwunde.«
»Und an die Kneipe, in der ihm das Malheur passiert ist, erinnert sich Dschingis-Khan auch nicht mehr.«
»Sie werden mir langsam unheimlich, Herr Kriminaldirektor«, stellte Müllner fest. »Der Verdächtige hat sich zu spät in ärztliche Behandlung begeben. Inzwischen ist eine handfeste Infektion eingetreten. Sollen wir den Mann vernehmen und …«
»Auf keinen Fall«, entschied der HOKO-Chef. »Lassen Sie den Burschen rund um die Uhr beschatten, und verständigen Sie mich, wenn er vernehmungsfähig ist.« Er legte auf und nickte seinem Freund aus Pullach zu. »Also, ein typischer Triaden-Mord, wie wir ja von vornherein angenommen hatten. Aber im Gegensatz zu dem Hamburger Verbrechen können wir uns diesmal etwas einfallen lassen.«
»Und du hast schon eine Idee?«
Er nickte zustimmend. »Mach dich schon mal auf eine Überraschung gefaßt.«
Mehr verriet Kudemann nicht. Blaurock mußte sich noch zwei Stunden gedulden. Gegen 20 Uhr verließen die beiden das Bundeskriminalamt und fuhren zum Rhein-Main-Flughafen, aber nicht im Dienstwagen, sondern in Kudemanns Privatauto. Er stellte es nicht auf dem großen Parkplatz ab, sondern rollte – offensichtlich nach Absprache – in die Innenseite des Flughafengebäudes. Als der Bus losfuhr, um die Passagiere der Maschine aus Paris auf der Landebahn abzuholen, fuhr er langsam hinterher.
Die Gangway wurde herangefahren, die Flugzeugtür geöffnet.
»Wir erwarten also einen Passagier aus Paris?« fragte Blaurock.
»Ja und nein«, erwiderte der Leiter der Sonderkommission. Nach kurzem Nachdenken ergänzte er dann doch: »Er kommt aus New York – Paris war nur eine Zwischenstation.«
»Also Interpol …«
»Ja und nein«, antwortete Kudemann zum zweitenmal.
Leicht verärgert gab es der Mann aus Pullach auf, das Orakel von Delphi zu befragen.
Die ersten Passagiere erschienen auf der Landetreppe, bedrängt von den nachfolgenden; immer mehr quollen heraus. Alle hatten es eilig, der engen Maschine zu entkommen. Der BND-Dezernent bemerkte einen Mann, der in jeder Menschenmenge auffiel, wiewohl er nichts dazu tat und nur knapp über der Normalgröße lag.
Blaurock betrachtete die hohe Stirn, die dichten, linksgescheitelten Haare, die buschigen Augenbrauen. Jetzt war er sicher, daß der Passagier, den er von New York her kannte und der die Intelligenz eines Wissenschaftlers mit der Härte eines Karatemeisters vereinigte, Fred Magellan war, mit dem er sich in New York angefreundet hatte.
In Praxis wie in Theorie der beste Chinaspezialist, den er kannte – und er kannte viele.
»Alle Achtung, Doktor«, sagte er zu Kudemann.
Die Lichter waren angegangen. Zehntausende bunter Fixsterne und Reklameschilder überschwemmten die Südost-Metropole mit Glanz und Farbe, ließen selbst die verlebten Fassaden der Nebenstraßen aufleuchten. Jeden Abend begann ›Hongkong by Night‹ mit einer Massenpromenade der Bewohner: Sie strömten aus ihren Wohnpferchen in den Termitenbauten, flüchteten aus verrotteten Fertigungshallen, um beim Straßenbummel etwas Luft zu schöpfen und ein wenig Freude zu tanken.
Im Suzie-Wong-Viertel Wanchai wiesen den Pfadfindern der Abwege die roten Laternen den Weg zu den Sündenpfuhlen. Sowie ein Schiff einlief und die Matrosen Landausgang hatten, zogen ganze Scharen philippinischer Hausmädchen zum Hafen, um die Frau an den Mann zu bringen. Die Filipinas waren die billigsten Käuflichen in einer Stadt, in der man sich die Lotterlieben etwas kosten lassen mußte. Eine Unzahl von Japanern, die ausschließlich zu diesem Zweck nach Hongkong zu fliegen pflegten, verdarben die Preise: Yen-Love.
Gleich nach dem Verlassen des ›Mandarin‹ waren der Kamikaze und seine Begleiterin in eine unübersehbare Menschenmenge geraten und wurden von ihr verschluckt und mitgerissen. Die Seitengassen mit den tiefen Häuserschluchten hatten sich in reißende Bäche verwandelt, in einen Fluß mündend, der zu einem mächtigen Strom anschwoll. Er floß nirgendwohin, da er sich an der nächsten Kreuzung schon wieder teilte oder gewaltsam zurückgestoßen wurde.
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