Will Berthold - Die Haut am Markt

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Marcelle ist die Frau seiner Träume! Paul Kerbach spürt es schon bei der ersten Begegnung, doch leider ist der Anlass dieser Begegnung alles andere als schön: Kerbach hat den Auftrag, Marcella umzubringen. Durch ein tragisches Missverständnis wird ihre Liebe zerstört und Marcelle verschwindet spurlos. Ein Verbrechen? Kerbach weiß, wer für dieses Unglück verantwortlich ist, und er sinnt nach Rache. Vor Gericht sagt er als Kronzeuge gegen seinen Auftraggeber René Debring aus und gesteht auch, als sein Komplize gehandelt zu haben. Damit hat er sein eigenes Todesurteil besiegelt. Es bleiben ihm zwölf Stunden, sein Schicksal abzuwenden, zwölf Stunden bis zu seiner Hinrichtung durch die Guillotine. Zeit, sich Gedanken zu machen über sein Leben, seine tote Frau, seine Geliebte. Und zu erkennen, dass er nur eine Wahl hat …-

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Will Berthold

Die Haut am Markt

Roman

SAGA Egmont

Die Haut am Markt

Genehmigte eBook Ausgabe für Lindhardt og Ringhof Forlag A/S

Copyright © 2017 by Will Berthold Nachlass,

represented by AVA international GmbH, Germany (www.ava-international.de).

Originally published 1961 by Desch Verlag, Germany.

All rights reserved

ISBN: 9788711727065

1. Ebook-Auflage, 2017

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt og Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.comund Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk– a part of Egmont www.egmont.com

Prolog

Sodann hoffe ich bei meinem letzten Auftritt in der ersten Morgenblässe des kommenden Tages gut disponiert zu sein. Ich werde unschuldig sterben, aber zu Recht. Mit meinem Kopf fällt auch die Angst; selbst ein Fallbeil hat sein Gutes.

Mein Wartezimmer zwischen Prozeß und Prozedur ist in einem großen, wuchtigen Haus, das nach Moder und Masse riecht und seltsam verwaschen wirkt, gebleicht von Wind und Regen, jedoch von morscher Stabilität gegen Leid und Tränen. Ein Maison voll düsterer Tradition in einer verstaubten Vorstadtstraße, die sich wie ein spröder Gürtel um den vierschrötigen Leib dieses Gefängnisses schnallt, einer häßlichen Warze im Gesicht einer schönen Stadt. Rue de Santé, ein Stück Paris ganz ohne Charme, Sackgasse gemeiner Verbrecher, Schleuse armer Sünder, Ausflugsziel gieriger Bummelanten, die in der Nacht vor der Hinrichtung die benachbarten Bistros füllen wie die Arena eines Sechstagerennens und mit behaglichem Gruseln den gleichen Moment erwarten wie ich.

Mein Raum im weitläufigen Prison de Santé, dem Gefängnis, das so frivol den Namen der Gesundheit führt, ist das Sterbezimmer. Wer es verläßt, verliert sein Leben.

Die Zelle ist sauber, rechteckig, ein wenig größer als man erwarten würde. Sonst von üblicher Ausstattung: ein kleiner Tisch, ein hölzerner Schemel, eine eiserne Pritsche mit einer ganz ordentlichen Matratze, ein Kübel mit Patentverschluß, an den Wänden, in der Keilschrift der Messerspitze, kleine Zoten und verwehte Namen, an der Stirnseite, viel zu hoch gerückt, ein zu klein geratenes vergittertes Fenster, durch das Licht in das Halbdunkel fällt wie eine posthume Versuchung.

Zwölf Stunden noch. Vielleicht dehnen sie sich wie eine welke Liebesnacht, oder sie sind so schnell wie ein gerissenes Seil. Eines Tages Halbzeit: 720 Minuten Wechselgeld gibt mir mein Leben noch heraus, in kleiner, glühender Münze; dann ist es soweit.

Mit einem Bruchteil dieser Zeit könnte man vielleicht eine Frau erobern oder ein Vermögen verspielen, ein Buch lesen oder nach Übersee fliegen, eine Operation überleben oder eine Welt vernichten, ein Kind zeugen oder nur auf einem breiten Boulevard sitzen, inmitten brodelnden Lebens, auf den Champs-Elysées vielleicht, die von meinem Gefängnis nur ein paar Kilometer entfernt sind, könnte bei einem Apéritif im Zauberspiel des Lichtes und der Farben die Anmut bewundern und der Jugend nachsehen, das Leben spüren und den Wind kosten, Träumer des Tages und beschäftigte Müßiggänger, um bei dem nächsten Apéritif wieder zur Zeitung zu greifen, in der morgen in dem Jargon, der das Pathos anzieht, stehen wird: Heute vollzog sich im morgengrauen der letzte düstere akt im sensationellen fall der schönen, reichen, aber unglücklichen marcelled.

Vielleicht kann ich morgen Mut wenigstens mimen, wenn ich der makabren Maschine als letzter Novität meines schwindenden Lebens begegne: an Armen und Beinen auf ein flaches Brett geschnallt, über dem ein schwarzer Vorhang zittert, hinter dem sich der Tod versteckt, in einer letzten gähnenden Sekunde zwischen Exekution und Exitus: ein Wink des Direktors, ein Daumendruck des Scharfrichters, ein Ruck, den ich kaum mehr spüre – und alles ist vorbei.

So leicht macht das Fallbeil eines Menschen Sterben – oder so schwer.

Ich ende so logisch wie absurd, so schuldig wie schuldlos. Ich wußte nicht, wie man lebt, und so muß ich lernen, wie man stirbt. Aber vielleicht ist das Schlagwort vom savoir vivre ohnedies nur die keusch-kokette Umschreibung der Kunst des Sterbens, in der wir alle Schüler sind.

Keiner kann etwas dafür, daß ich morgen hingerichtet werde, keiner, es sei denn, ich selbst. Das hat seinen Grund, den ich hier mit einem einzigen Satz darlegen kann: Ohne Umweg folge ich einer Frau, die mich vergessen ließ, daß es noch andere gab. Es war das Übermaß eines Gefühls, das nicht mehr leben kann, weil es sich nicht erfüllen durfte.

Vor mir, auf dem rohen Holztisch, an dem ich schreibe, steht ihr Bild. Es lebt schon auf den ersten Blick von dem Kontrast aus Lebenslust und Schwermut, von der Gegensätzlichkeit jünger Augen zu melancholischen Lippen. Der Mund ist von einer verspielten Müdigkeit, als hätte er zuviel gesagt oder verschwiegen. Das Lächeln steht im Duell mit sich selbst; es fasziniert noch immer, auch wenn es zur Endgültigkeit geronnen ist. Eine Fotografie kann ja nichts anderes sein als ein Denkmal aus Papier – und dieses hier ist an den Rändern abgenutzt von den Fingerabdrücken der Sehnsucht.

Das Foto wird nicht mehr lange an diesem Platz vergilben. Morgen früh, danach, wird Marcelles Bild, zusammen mit einer Armbanduhr, einer Brieftasche und Manschettenknöpfen, in ein Stoffsäckchen wandern. Ab morgen werden meine persönlichen Utensilien als Asservate – so nennt man die Souvenirs der Strafjustiz – in einem verschlossenen Aktenraum verwahft, sauber geordnet auf großen Holzgestellen: überführende Indizien neben gesäuberten Mordwerkzeugen, sortiert, etikettiert und registriert wie der Versatz eines gängigen Leihhauses; schließlich handelt es sich bei diesem tödlichen Sortiment auch um die Pfandleihen verwirkten Lebens.

Ich habe das Bild Marcelles in den letzten Monaten so oft betrachtet, daß ich es mit geschlossenen Augen zeichnen könnte. Es besteht nur aus Kopf, der Kopf nur aus Augen. Es sind Augen, die das Leben lieben, helle Augen, klare Augen, Augen, deren Iris leicht zu moussieren schien, sooft Marcelle sich erregte, und dunkel wurde, wenn sie Furcht spürte.

Apropos Angst: Hier kauert sie in jedem Winkel, in jeder Zelle, hinter jeder Wand. Dieser dunklen Schattierung begegne ich, seitdem ich in diesen Flügel des düsteren Hauses eingezogen bin, in den Pupillen aller, die mich betrachten: der Mithäftlinge, die eines Tages das Gefängnis durch das Hauptportal wieder verlassen werden, mit eigener Kraft, und nicht wie ich in einer widerlichen Fichtenkiste verstohlen durch die Seitenpforte; in den Augen des Anstaltsgeistlichen, des Feigenblatts der Zivilisation bei einer Hinrichtung, der sich sicher gerade die passenden Worte für die morgige Gelegenheit zurechtlegt; in den Augen des Gefängnisdirektors, dessen Frau den. vom Protokoll des Fallbeils verlangten dunklen Anzug soeben aus dem Schrank hängt. Die Angst ist der unsichtbare, unheimliche Zaungast dieses steinernen Riesenkäfigs, in jeder Zelle zu Hause, in jedem Gang auf der Lauer – wenigstens in diesen Nächten davor, die der Henker aus Gründen der Zweckmäßigkeit bereits unter einem Dach mit seinem Opfer verbringt.

Jeder ringt mit dieser schleichenden, dauernden Furcht und dekuvriert, sie gerade dann, wenn er sie zu verbergen sucht. Denn jeder Blick und jeder Ton ist ein Hilferuf nach oben, die Art, in der auch der Areligiöse noch betet, sich unbewußt an den einzigen wendet, der die Angst nicht kennt, denn: Gott betet nicht.

Meine Zelle ist stickig-warm, aber ich fröstle, denn hier beginnt der Flur, der stets ungewaschen wirkt, so sehr man ihn auch schrubbt, und der in die Dunkelheit führt.

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