Roman
Saga
Ich hatte mir vorgestellt, die Reise als langsame Annäherung zu verstehen. Sie sollte mir Zeit für eine Rückbesinnung auf all das bieten, was mir das Leben an diesem Ort einst bedeutet hatte. Ahnungslos, wie ich war, hatte ich mich für die Anreise mit dem Zug entschieden, in der Hoffnung, gemächlich von Stadt zu Stadt getragen zu werden, entlang an Wiesen und Flüssen, unterbrochen durch die dörflichen Flecken, deren Gestalt sich in kleinen Schritten veränderte, je weiter man nach Norden vordrang. Vom Feldstein zum Fachwerk, dann zum Sandstein und schließlich zum Ziegel.
Was ich hingegen zu sehen bekam, ertrank im Rausch der Geschwindigkeit, dem Tempo, mit dem sich der Zug auf bereinigter Trasse seinen Weg durchs Land bahnte, unterbrochen von Metropolbahnhöfen und endlos gleichgesichtigen Handelszonen mit ihren Verwaltungsbauten und Logistikzentren, die sich zwischen den Städten fast nahtlos die Hand gaben. Ich war das Reisen in Großraumzügen nicht gewohnt, hatte ein abgeschiedenes Abteil vor Augen gehabt und war nun umgeben von permanentem Tumult, der Hektik des Ein- und Aussteigens, dem Verstauen von Gepäckstücken und sich stetig durch die Sitzreihen drängelnden Reisenden.
Nach kurzer Zeit hatte sich mein Wahrnehmungszyklus der rasanten Umgebung angepasst und die Beobachtung kontinuierlicher Abläufe war der Betrachtung sinnloser Bewegungsfragmente gewichen. Glaubte man der Mehrzahl der Mitreisenden, dann waren über Kopfhörer verabreichte Dosen intimer Klangkataloge und geschlossene Augen ein probates Mittel, der Kakophonie des Tumults zu entkommen, aber da ich mich nie daran hatte gewöhnen können, in der Öffentlichkeit Kopfhörer zu tragen, musste ich die Geräuschkulisse meiner Umgebung ertragen.
Die Dunkelheit des Augenblicks gewährte meinen Gedanken dennoch einen diffusen Blick zurück ins Damals, zu den Menschen und Dingen, die mir etwas bedeutet hatten, zu der Stadt Hamburg, die wir aufgrund ihrer Lage und Einzigartigkeit Nurstadt getauft hatten und in die ich eigentlich nie wieder hatte zurückkehren wollen, gerade weil man die Zeit nicht anhalten kann und weil sich bestimmte Dinge besser verdrängen lassen, wenn man ihnen endgültig den Rücken kehrt.
Das Lebensviertel, das ich in Hamburg verbracht hatte, war längst vergangen. Genau betrachtet, war es weit weniger als ein Viertel meines Lebens gewesen, aber aus der Perspektive von über zwanzig Jahren Abwesenheit gesehen, musste der Anteil ungefähr diesem Wert entsprechen. Zu keiner anderen Zeit war mein Leben so verdichtet gewesen, hatten so viele Dinge und Geschehnisse in so kurzen Abständen auf mich eingewirkt, dass es mir nun fast unmöglich erschien, nicht einmal ein Jahrzehnt dort verbracht zu haben. Vielleicht war es also nur die Geschwindigkeit, mit der das Leben durch eine Großstadt getragen wurde, die ich nicht mehr gewohnt war.
Mit der Flucht aus Hamburg, die damals vielleicht auch der Furcht geschuldet war, die Intensität des dortigen Lebens nicht länger aushalten zu können, die rasche Folge von Enttäuschungen gleichermaßen wie die Glücksmomente, die Liebe wie auch die Trauer, ging der Entschluss einher, mein Leben in entschleunigter Abgeschiedenheit fortzusetzen. Dem war ich bis heute treu geblieben. Nicht mehr so isoliert wie in den ersten Jahren, als ich mich selbst der Anschaffung eines Telefons verweigert hatte, wodurch sich die Anzahl der Freunde binnen kurzer Zeit auf ein überschaubares Maß reduziert hatte, aber ich schrieb meine Briefe nach wie vor mit der Hand und bewegte mich kaum abseits der täglichen Pfade zwischen dem alten Haus, aus dessen Schlafzimmer ich bisweilen dem Tosen der bretonischen Küste lauschen konnte, und den überschaubaren Verpflichtungen, die der Betrieb unseres kleinen Restaurants im Nachbarort mit sich brachte.
Nach wenigen Jahren waren auch die Briefe der Ehemaligen weniger geworden, nur Anelis hatte hartnäckig an ihren jährlichen Zeilen zur Lage der Nation aus Hamburg festgehalten. So war ich ungefähr darüber im Bilde, wer von der alten Clique noch an diesem Ort lebte und hatte eine vage Vorstellung davon, wie sehr sich die Stadt seit meinem Fortgang verändert haben musste. Ohne den ominösen Scheck, der ihrem letzten Brief beigefügt war, wäre mein Entschluss, nie mehr an diesen Ort zurückzukehren, allerdings nie ins Wanken geraten. Aber allein die Höhe der ausgestellten Summe bedurfte einer Klärung, und da ich in etwa ahnte, was geschehen sein musste, hatte ich mich auf den Weg zurück in die Vergangenheit gemacht.
Seit wir das Ruhrgebiet mit seinen unzähligen Bahnhöfen passiert hatten, war die vormalige Ordnung im Zug unter der Last der Reisenden zusammengebrochen. Ich hatte zwar meinen reservierten Sitzplatz, aber an ein Verlassen der umlagerten Bestuhlung war nicht mehr zu denken, nachdem selbst die Stehplätze im Waggon zur Mangelware geworden waren. Als der nächste Halt über Lautsprecher angekündigt wurde, schnappte ich mir meine Tasche aus dem Gepäcknetz, kämpfte mich rechtzeitig bis zum Ausgang vor und verließ die überbordende Peristaltik des Lindwurms, um meine Reise mit dem nächstbesten Regionalzug fortzusetzen. Wie ich gehofft hatte, gab es außer mir nur eine Handvoll Mitreisender, und so nahm ich den kleinen Schlenker in meiner Reiseroute dankend in Kauf. Es gab zwar immer noch keine gemütlichen Abteile, aber dafür konnte ich ab sofort den Komfort der Langsamkeit genießen.
Mir schräg gegenüber saß eine junge Frau, die in ein Buch vertieft war. Im Spiegelbild im Fenster versuchte ich den Titel auf dem Einband zu entziffern, wobei mir plötzlich bewusst wurde, dass meine Gedanken in meine Muttersprache zurückgefunden hatten. Im Unterschied zur gesprochenen Sprache war es mir nie möglich gewesen, die Sprache meiner Gedanken gezielt zu steuern. Anfangs hatte ich nach einem Ausweg gesucht, einem Schalter, mit dem sich dieser Umstand beeinflussen ließ, aber mit der Zeit hatte ich lernen müssen, dass selbst wenn ich deutsch sprach, meine Gedanken ein sprachliches Eigenleben führten. Auch konnte ich den Moment nie bestimmen, in dem sich der Wechsel vollzog. Erst im Nachhinein fiel es mir irgendwann auf.
Nun waren also auch meine Gedanken zurückgekehrt. Hinter dem Gesicht der Frau, die mich ohne den Kopf zu heben über den Rand des Buches musterte, tauchten die ersten Rapsfelder auf, die noch nicht in voller Blüte standen. Das aufdringlich leuchtende Gelb, das mich bislang die Fahrt über begleitet hatte, bildete hier erst einen schwachen Kontrast zu den dunklen Schauerwolken am Horizont. Ein zartes Licht, das davon kündete, dass die Zeit hier nicht so schnell voranschritt, dass alles etwas länger brauchte, um dann umso intensiver zu wirken.
Wir rollten vorbei an der bäuerlichen Unordnung scheinbar verlassener Höfe und verwilderter Scheunen, unterbrochen von den dunklen Schützengräben der hiesigen Spargelwirtschaft, die teils mit weißen Planen abgedeckt waren, um den regionalen Wettbewerbsnachteil zu mildern. Friedlich grasende Schwarzbunte tauchten auf, im Schatten der Windrotoren wie Spielzeugtiere wirkend, nicht so martialisch vor Kraft strotzend wie die neuerdings wieder häufiger auf den heimischen Weiden anzutreffenden Pie Noir, aber allemal abwechslungsreicher als die einfarbigen Herden der Charolais oder Limousins, denen man in der Bretagne vorrangig begegnete.
Als ich den Namen des nächsten Bahnhofs las, der in großen Lettern unter der Traufe eines sonst schmucklosen Gemäuers aus rotem Backstein hing, war ich mir nicht mehr sicher, ob dieser kleine Schlenker wirklich aus der Not eines überfüllten Zuges geboren worden war oder ob nicht vielmehr ein stiller Ast meines Unterbewusstseins längst die Regie übernommen hatte. Nicht weit von diesem Ort war ich damals aufgebrochen, hatte mein Elternhaus verlassen und meinem Vater den Rücken gekehrt. Mit vierzig Mark in der Tasche und einem Seesack mit dem Nötigsten unter dem Arm.
Читать дальше