Ich hatte die alten Fotoalben durchforstet, die darin enthaltenen Porträts von mir gesichtet, systematisch nach irgendetwas Verräterischem gesucht, aber keine Auffälligkeiten gefunden. Weder war ich besonders blond, noch hatte ich leuchtend blaue Augen, war also nicht mit Attributen ausgestattet, die man gemeinhin als Schönheitsideal ansah. Größe, Gewicht, Haare und Hautfarbe – nach meinem Empfinden alles Mittelmaß, nicht über dem Durchschnitt. Auch gebärdete ich mich nicht ausdrucksstark, nahm keine besondere Haltung oder Posen ein und kleidete mich ohne jegliche Extravaganz. Es war auch nicht so, dass man mich angaffte, wenn ich einen Raum betrat, oder in ehrfurchtsvolles Schweigen verfiel.
Aber diejenigen, mit denen ich später ins Gespräch kam, teilten mir übereinstimmend mit, dass ich ihnen sofort aufgefallen sei. Es klang für mich wie eine Beichte, zumal es nur in intimer Zweisamkeit unter vier Augen ausgesprochen wurde. Aber was es war, woran es lag, das vermochte keiner in Worte zu fassen. Irgendeine zufällige Komposition von Ausgeglichenheit war es, welche die Natur in der Anordnung meiner Gesichtszüge hinterlassen hatte. Nichts, was sich konkret in Maß und Form der Nase oder Ohren, im Abstand der Augen zueinander oder der Farbe meiner Iris ausdrücken ließ. Es war ein zufälliges Miteinander, das mich mein ganzes Leben über begleitet hatte, unabhängig vom Wuchs und der langsam verblassenden Farbe meiner Haare, von den Falten um Augen und Mund, die ich inzwischen bekommen hatte.
Wenn ich unentdeckt bleiben wollte, blieb mir nur die Möglichkeit, einen Teil meines Gesichts zu verdecken, beispielsweise eine dunkle Sonnenbrille aufzusetzen. Auch wenn ich mir einen Vollbart wachsen ließ, hatte ich meine Ruhe vor fremden Blicken. Aber vom Tragen eines Bartes hatte ich Abstand genommen, weil es mir unangenehm war, und die Sonnenbrille war mir insofern unheimlich, weil ich mir wie ein Voyeur vorkam, der eine Tarnkappe trug. Wenn man sein Leben lang Aufmerksamkeit gewohnt war, dann glich der Verlust derselben fast einer existenziellen Bedrohung.
So hatte ich mir angewöhnt, damit umzugehen, als sei es nichts Besonderes, ständig die Aufmerksamkeit zu bekommen, nach der sich andere vergeblich sehnten, denn ich hatte die Magie des Augenblicks längst als mein Schicksal begriffen, weil ich mich von dem Geschenk, das mir in die Wiege gelegt worden war, beizeiten überfordert fühlte. Über die Jahre war ich den Menschen gegenüber vorsichtig geworden, hatte Skepsis und Wachsamkeit hervorgebracht, mit denen ich, hochsensiblen Antennen gleich, Absichten und Begehrlichkeiten auslotete.
Ihre Augenbrauen mussten gezupft sein. Es war unwahrscheinlich, dass sie seitlich so über die Augen bis zu den Schläfen hin reichten, gleichfalls war die Nasenwurzel in ganzer Breite unbehaart. Den üppigen Haarwuchs ließ auch ihr kräftiges Haupthaar vermuten, das sie zwar streng nach hinten gekämmt und kurz zusammengebunden trug, das aber so unbändig schien, dass es nicht glatt am Kopf anlag, sondern von Spuren fahriger Wirbel durchzogen war. Ihr Haaransatz war unregelmäßig, und dort, wo die hellen Härchen auf ihrer Stirn in gezackter Linie ins Haupthaar mündeten, hatten sich kurze Locken dem gedachten Ordnungsschema entwunden und bildeten im Schlaglicht der Sonnenstrahlen einen diffusen Flaum, der wie ein Kranz um ihren Kopf lag und ihr fast etwas Elfenhaftes gab. Ihr Profil konnte ich nur erahnen, da sie den Kopf zwar ab und an hob, aber nicht zur Seite schaute. Auch Form und Größe ihrer Ohren blieben mir verborgen, dafür bot sich mir ihr Mund an, der im Verhältnis zum kräftigen Kinn nicht sehr breit war, was ihrem Gesicht einen eigenartigen Reiz verlieh. Die Mundwinkel endeten zwar auf Höhe der Iris, aber ihre Augen standen trotz ihrer langen und schmalen Nase mehr als eine Augenbreite auseinander. So konnten die mir verborgenen Ohren auch niemals dem Abstand von Mundwinkel zu Augenwinkel entsprechen, wie es idealerweise hätte sein müssen. So zumindest war es mir einst beigebracht worden, dort, wo uns dieser Zug hinbringen sollte.
Ich spürte, wie mir das Gesicht gegenüber zur Büste geriet, und ich war kurz davor, die Proportionen der unbekannten Frau in eine dreidimensionale Skizze zu verwandeln. Nur aufgrund ihrer hohen Stirn lag die Achse ihrer Augen auf halber Höhe des Kopfes, was allein deswegen merkwürdig anmutete, weil ihr Gesichtsfeld nicht nach unten versetzt war. Alles schien am rechten Platz, auch der Abstand von Nasenspitze zu Oberlippe war nicht verkürzt. Ganz im Gegenteil leitete ein wohlproportioniertes Grübchen, so wurde es im Kontrast des seitlich einfallenden Lichts beschattet, zu ihren Lippen über, die sie im unregelmäßigen Rhythmus mit ihrer Zungenspitze befeuchtete, eine trotzig spöttische Oberlippe, die auf einer vollen und sinnlichen Unterlippe ruhte. Mein besonderes Augenmerk schenkte ich der winzigen, unscheinbaren Narbe am Rand ihrer linken Braue, die noch aus Kindszeiten stammen musste.
»Die Folge einer kindlichen Unachtsamkeit, die von der Lenkerstange meines Fahrrades herrührt.« Mit dem Zeigefinger ihrer rechten Rand strich sie langsam über ihre Braue, als könne sie die zierliche Narbe ertasten. So genau also war sie meinem Blick über den Rand des Buches gefolgt. Nein, sie kannte ihre Makel nur allzu gut. Makel, die keine waren. Weder die klitzekleine Narbe, noch ihre etwas unreine und grobporige Haut, die sie überflüssigerweise mit Make-up zu kaschieren versucht hatte.
Das spitzbübische Lächeln wiederholte sich, auch wenn ihr die Röte der Überwindung dabei ins Gesicht schoss. Ihre Stimme war leise und freundlich. Sie klappte das Buch auf ihrem Schoß zu, dessen Cover mit Steg und Bootshaus an einem See oder Fjord den skandinavischen Krimi verriet, auch ohne dass ich Titel oder Namen des Autors entziffern konnte, und richtete sich soweit im Sitzen auf, dass der Kragen ihrer Bluse aufklappte und den Blick auf eine Kette mit goldenem Kruzifix freigab. Sie hatte die kräftig gezeichneten Schlüsselbeine und auffällig breiten Schultern einer Sportlerin.
Ich hätte die sich anbahnende Konversation mit nur einem einzigen französischen Satz unterbinden können, der mich als Ausländer ausgewiesen hätte. Aber schließlich hatte ich ihr Gesicht studiert, wie ein Künstler sich seinem Modell annähert, hatte ihren Kopf und nun auch ihren Oberkörper in ein metrisches Raster gezwängt, das mir Aufschluss über Proportionen und Maße gab, meine Gedanken hatten heimlich nach Rückschlüssen auf ein Wesen gesucht, dem ich mit meinen Blicken zu Leibe gerückt war. Das alleine hätte nach einer Entschuldigung gerufen, die mir nicht in den Sinn kam. Insofern verwarf ich die Idee und ergab mich dem Schicksal einer harmlosen Plauderei.
»Sie haben angefangen.« Ich erschrak, als ich mich in meiner Muttersprache reden hörte, so anders klang meine Stimme, und ich versuchte mich im selben Augenblick zu erinnern, wann ich das letzte Mal deutsch gesprochen hatte.
»Womit?«
»Mich zu beobachten, meine Gesichtszüge zu studieren.«
»Sie erschienen mir allemal interessanter als mein Buch.« Das war gewagt.
»Das Schicksal miteinander Reisender. Zumindest, wenn man sich gegenübersitzt.« So formulierte ich es, obwohl ich es besser wusste. Hätte ich geantwortet, dass das Buch demnach sehr langweilig oder schlecht sein müsse, wäre der weitere Verlauf unserer Unterhaltung besiegelt gewesen. »Es tut mir leid (was es nicht tat), falls Sie sich durch meine Blicke belästigt gefühlt haben. Ich war in Gedanken. Mein Berufbringt es mit sich, dass ich Menschen sehr genau beobachte. Ich hatte keine unschicklichen Absichten.« Ich hatte sie auch jetzt noch immer nicht, selbst wenn ich mit der Vorstellung spielte, sie könne spontan ein selbstbewusstes Wie Schade als Antwort geben.
»Was machen Sie denn beruflich?« Sie war doch schon längst erweckt, die Neugierde.
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