Etwa zu dem Zeitpunkt, als der Zug das erste Mal den Fluss überquert hatte, den es auf dem Weg zur Stadt von Süden kommend zweimal zu kreuzen galt, hatte ich die Frau bemerkt, die mir schräg gegenüber auf dem Fensterplatz saß und mich aufmerksam betrachtete. Meine Mappe hatte ich zuunterst im Gepäcknetz verstaut, aber sie ragte aufgrund ihrer Größe immer noch weit über den Rahmen hinaus, sodass ich von Zeit zu Zeit aufblickte, um zu kontrollieren, dass sie nicht verrutscht war. Den Seesack hielt ich zwischen den Beinen und begutachtete abwechselnd meine darin verborgenen griechischen Göttlichkeiten, die mir als Eintrittskarte zum studentischen Leben dienen sollten, einen Torso der Aphrodite, den Kopf des Poseidon als Teil eines Reliefs sowie eine kleine Büste, die ich nach dem Vorbild des Perikles angefertigt hatte.
Ihr Blick haftete an den Werkstücken und an meinen Händen, wobei ihr Gesichtsausdruck lebhaft zwischen Erstaunen und Begeisterung wechselte, bis sie sich meiner Aufmerksamkeit sicher war, weil ich unvermittelt lachen musste und sie hinter gespielt schüchterner Maske Stellung bezog, um sofort wieder ein keckes, verschmitztes Grinsen anklingen zu lassen, das einer spielerischen Einlage, einer komödiantischen Grimasse gleichkam. Fasziniert von ihrem Mienenspiel hatte ich begonnen, sie genauer in Augenschein zu nehmen, und fragte mich insgeheim, warum sie mir bislang nicht aufgefallen war, wo sie doch so nah bei mir saß, denn hinter ihrer anfänglichen Unscheinbarkeit verbargen sich die dunkelsten und geheimnisvollsten Augen, die ich bis dahin gesehen hatte. Sie musste etwa in meinem Alter sein, sodass ich mich ermutigt gefühlt hatte, sie direkt anzusprechen.
»Sind sie so schlecht?«, hatte ich mit Blick auf die kleine Büste in meinen Händen gefragt. Sie hatte ein schmales, an den Wangen eingefallenes, fast knochiges Gesicht mit einer noch schmaleren Nase und einem umso größer wirkenden Mund mit vollen Lippen, die, einem anhaltenden Erstaunen gleich, stets geöffnet waren. Unter den kastanienbraunen Haaren, die sie fahrig unter einer Baskenmütze verstaut hatte, zeichneten sich große, apart abstehende Ohren ab, aber im Zentrum meiner Aufmerksamkeit hatten ihre Augen gestanden. Sie waren mandelförmig wie die der Nofretete, mit schwarzem Kajalstift gerändert, und ihre Iris war von so dunkler Farbe, dass sich der Übergang zu den Pupillen nur erahnen ließ.
Mit einem herzhaften Lachen hatte sie ihre Zähne entblößt, die von makellosem Weiß waren, aber angesichts ihres schmalen Kiefers überaus groß wirkten. »Weil ich lachen musste? Nein, das Lachen galt Ihnen, weil Sie so verträumt waren, so entrückt wirkten ... Haben Sie die gemacht? Den ... Perikles?«
»Man erkennt also schon, was es darstellen soll?«, hatte ich spaßeshalber erwidert. Zumindest kannte sie sich mit antiker Kunst aus, was mich verblüfft hatte.
»Nun ja, Perikles erkennt man dank seines unverwechselbaren Helms ja immer«, hatte sie gesagt, und als sie an meinem Gesichtsausdruck ablas, dass ihre Worte nicht gerade als Kompliment aufzufassen waren, hatte sie sich beeilt, ein »doch, sehr schön« hinzuzufügen, merkte aber wohl, dass ihr ursprüngliches Urteil kaum mehr zu revidieren war. »So etwas passiert mir ständig«, hatte sie zerknirscht zu verstehen gegeben. »Dabei wollte ich eigentlich nur sagen, dass ich keine Expertin auf dem Gebiet bin.«
Auch wenn ich vielleicht hatte wissen wollen, auf welchem Gebiet sie denn eine Expertin war, und aus dem Gespräch eine freundschaftliche Annäherung, ein gegenseitiges Kennenlernen hätte entstehen können, tat ich damals nichts dergleichen, obwohl ich zumindest eine Art Wiedergutmachung hätte einfordern können. Vielleicht hatte es mir zu dem Zeitpunkt auch noch am dazu notwendigen Selbstbewusstsein gemangelt, denn meine Erfahrungen in Bezug auf das andere Geschlecht waren kläglich, was wohl daran lag, dass ich mich, angeekelt von der offensichtlichen Schürzenjägerei meines Vaters – er war mit seinem unkontrollierten Eroberungsdrang das denkbar schlechteste Vorbild für einen Heranwachsenden gewesen – sehr schwer damit getan hatte, dem Flirten auch ohne ständigem Ziel vor Augen etwas abgewinnen zu können.
Vielleicht war es aber auch nur die Situation als solche gewesen, von anderen Fahrgästen beobachtet zu werden, deren Blicke keine pietätvolle Zurückhaltung signalisiert hatten, die mich davon hatten Abstand nehmen lassen, der Verlockung einer fortgesetzten Balz nachzugeben. Wie auch immer, im Nachhinein betrachtet, hatte ich genau richtig reagiert, auch wenn mein eigentliches Empfinden für die schöne Unbekannte, deren Namen ich erst Tage später erfahren sollte, mir etwas anderes gesagt hatte.
Als wir uns das zweite Mal begegneten, verschlug es uns beiden gleichermaßen die Sprache. Uns blieb gar nichts anderes übrig, als die unglaubliche Zufälligkeit des Geschehens als eindeutiges Signal der Zugehörigkeit, als Vorsehung zu deuten. Ich hatte gerade das Procedere der Aufnahme erfolgreich überstanden und konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass es an diesem Tag noch etwas geben könne, das mein Glücksgefühl hätte steigern können, als ich sie am Treppengeländer der großen Halle in der Kunsthochschule lehnend erblickte.
Im ersten Augenblick hatte ich gedacht, es handle sich nur um eine Ähnlichkeit, aber fast im gleichen Moment war mir klar, dass es niemanden sonst mit diesen Augen geben konnte. Ihr musste es ähnlich ergangen sein, denn als sich unsere Blicke trafen, schien sich alles um uns herum in marginale Unschärfe zu verflüchtigen. Die beiden Studenten, mit denen sie im Gespräch gewesen war, ließen uns jedenfalls alleine, und es mussten etliche Sekunden gewesen sein, die wir uns einfach wortlos angestarrt hatten. Sie war viel kleiner und zierlicher, als ich sie in Erinnerung hatte.
Wer von uns zuerst das Wort erhob, entzog sich meiner genauen Erinnerung, aber beide waren wir zielstrebig darauf erpicht gewesen, uns keinesfalls erneut aus den Augen zu verlieren, was schließlich dazu führte, dass wir die nächsten Tage fast unzertrennlich aneinander kletteten und keine Gelegenheit ausließen, das nachzuholen, was uns seit unserer ersten Begegnung entgangen war.
Sie hieß Julia und studierte bereits seit zwei Semestern mit dem Schwerpunkt Textile Gestaltung. Der Umstand, dass sie zudem zwei Jahre älter als ich war, ließ sie glauben, die Führungsrolle in unserer angehenden Liebschaft übernehmen zu müssen, was ich dankbar geschehen ließ. Julia arbeitete nebenher als Verkäuferin in der Stoffabteilung eines großen Kaufhauses und konnte sich dank dieser Einkünfte eine eigene Wohnung leisten, in der ich mich auf ihren ausdrücklichen Wunsch hin gerne einquartierte, bis ich etwas Adäquates gefunden hatte.
So wurde ich mit dreitägiger Verspätung zu ihrem Teddybären mit Namen Perikles, den sie am liebsten schon im Zug eingesammelt und mitgenommen hätte, wie sie mir in unserer ersten gemeinsamen Nacht gestand, in der ich nicht anders konnte, als ihr beizupflichten, dass auch sie mir nicht aus dem Kopf gegangen war, als ich die ersten Tage in der Stadt herumgeirrt war, versucht hatte, mich im Betrieb der Hochschule zurechtzufinden, die Gegend erkundet, die ersten Nächte auf Parkbänken geschlafen hatte und zum Waschen frühmorgens über den Zaun eines nahen Freibades geklettert war. Und dieser Perikles war ich geblieben, bis mir der Platz auf Nofretetes Regal der Teddybären zu eng wurde und das erwachsene Steifftier die Sehnsucht nach Freiheit überkam.
Nein, ich war längst kein Perikles, kein Abenteurer mehr, auch wenn mich das Verlangen danach beizeiten überkam. Die Lehren, die ich aus lästigen Skandalen und Feldzügen gezogen hatte, ließen sich nicht mit einem peloponnesischen Krieg oder dem Skandal um Phidias vergleichen, waren mir dennoch ständige Warnung, denn die Mechanismen, die aus Kriegsherren Teddybären und aus Teddybären Gefangene machten, hatten sich in meinem Leben nie geändert. In diesem Sinne verabschiedete ich mich von der unbekannten Frau, als der Zug im Hauptbahnhof zum Stehen kam, ohne ihren Namen erfahren zu haben und ohne die Aussicht auf eine Verabredung.
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