Vielleicht wiederholte sich der Zufall einer erneuten Begegnung, vielleicht auch nicht. Ich hatte es trotz der fordernden Einladung von Anelis vorgezogen, erst einmal in einem Hotel unterzukommen und die Stadt aufs Neue zu erkunden. Falls ich die Unbekannte wiedertreffen sollte, konnte ich mein Schicksal immer noch herausfordern.
Bevor ich die Hallen des innerstädtischen Bahnhofs verließ, der früher wie ein Riegel die Geschäfts- und Handelswelt auf der einen von den zwielichtigen Gassen der Gescheiterten auf der anderen Seite getrennt hatte, nutzte ich die Gelegenheit und kaufte mir einen Stadtplan. Ich war nicht sicher, ob ich mich nach den vielen Jahren der Abwesenheit in dieser Stadt noch zurechtfinden würde. Beim Überqueren der Ringstraße tankte ich dankbar ein paar Sonnenstrahlen, dann tauchte ich ein in die beschattete Schlucht der großen Fußgängerzone und ließ mich mitreißen vom Sog der Passanten auf ihrem Weg zu den alten, inzwischen mit Glasfassaden armierten Tempeln des Konsums.
Das Erste, was mir auffiel, war der Geruch der Stadt. Ich kramte in meinen Erinnerungen, aber den damaligen Geruch hatte ich abgelegt wie einen alten, von Motten zerfressenen Mantel. Ich wusste nur noch, dass in den Teilen der Stadt, in denen industrielle Produktionsstätten gestanden hatten, sehr oft ein durchdringender Geruch von Hefe in der Luft gelegen hatte, ganz abgesehen vom Gestank der Hafenbezirke, einer Mischung aus modrigem Brackwasser und den Abgasen der Schwerölverbrennung.
Zumindest hier an diesem Ort war davon nichts zu spüren. Weder der penetrante Duft gebratener Hähnchen lag in der Luft, noch begegnete ich den stets hungrig machenden Schwaden von Frittenfett und Currywurst, die einst an jeder zweiten Ecke aus den Imbissbuden und Verkaufswagen aufgestiegen waren. So langsam kam die Erinnerung zurück. Was ich hingegen wahrnahm, war eine Melange aus Coffee to go, Parfüm, Nikotin und Schweiß wie ein letztes Aufbäumen gegen den aseptischen Geruch von Geld und Kommerz.
Ungewohnt waren auch die vielen Stühle und Tische vor den zahlreichen Lokalen. Was ich in Erinnerung hatte, war das rast- und ruhelose Strömen der Menschen vor den Schaufenstern und durch die Passagen, deren Anzahl sich gleichwohl verdoppelt haben musste, unterbrochen höchstens von den Pulks der selbst ernannten Outlaws, die sich um die Brunnen und an markanten Plätzen versammelten und demonstrativ alternative Lebenskulturen propagierten, letztendlich nichts anderes als rebellierende Jugendliche, wie es sie seit jeher gegeben hatte. So gut wie nichts davon war geblieben.
Touristen und Einheimische waren auf den ersten Blick kaum auseinanderzuhalten. An diesem Ort wirkte die Stadt vollgestopft und überlaufen von Menschen, die nicht zu arbeiten schienen, flanierende Pärchen, Männer in teuren, maßgefertigten Anzügen, die sich sowohl alleine als auch in kleinen Gruppen bewegten, sicher Geschäftsleute auf dem Weg in die Mittagspause, blasse Mädchen mit kurzen Röcken, darunter einheitlich dreiviertellange, schwarze Strumpfhosen und Ballerinas, das Handy am Ohr, egal ob laufend oder sitzend, auf das Gerät starrend, abgerückt von der Welt, zumindest der realen.
Vorbei die Zeit, wo man in dieser Stadt sein Mittagessen im Stehen einnahm. Sushi Bars, Cafés und Spezialitätenrestaurants von unglaublicher regionaler Vielfalt hatten Fischbrötchen und Chinamann allerorten abgelöst. Was früher unter Asia-Food lief, differenzierte man inzwischen nach Ländern, abwechselnd Vietnam, Korea und Thailand, außerdem gab es indische, malaysische oder philippinische Delikatessen. Früher hätte man jede Wette eingehen können, in der Küche beim Asia-Restaurant schwarzhäutige Kenianer oder Ghanaer anzutreffen.
Kurz spielte ich mit dem Gedanken, das alte Vorurteil den Küchenhierarchien in fernöstlichen Restaurants gegenüber prüfen zu wollen, ließ es dann aber und setzte mich am Ende der Fußgängerzone unter den Schirm eines Eiscafés, dessen Mobiliar durch einen Zaun von Buchsbäumen in eckigen Terracotta-Kübeln zu dem der benachbarten Pizzeria abgegrenzt wurde.
Ein wenig Wehmut überkam mich. Alles wirkte so aufgeräumt und sauber, wie man es in den achtziger Jahren – wenn überhaupt – höchstens aus Zürich kannte. Die Gehwege und Bürgersteige waren blitzblank und aufgeräumt, obwohl kein Reinigungsfahrzeug oder Straßenkehrer zu sehen war. An den Laternenmasten klebten weder Aufkleber noch Offerten. Dafür gab es Spenderboxen mit kostenlosen Tüten für Hundedreck und Mülleimer, die nicht mehr gelb oder grün waren, sondern rot und mit einer eigenen Öffnung für Zigaretten. Auf den zweiten Blick bemerkte ich die plakativen Wortspielereien auf den Tonnen, mit denen die Passanten zur Nutzung aufgefordert wurden. Zumindest in ihrer Aufmachung erinnerten sie an die infernalische Plakatierungswut früherer Zeiten.
Die Straßen waren verkehrsberuhigt und zugeparkt wie in Paris. Der Lieferverkehr parkte in der zweiten und dritten Reihe mit dem Unterschied, dass die hiesigen Straßen und Gassen in ihren Ausdehnungen und ihrer Breite nicht an die französischen Boulevards heranreichten. Entsprechend zäh floss der Verkehr. Dafür gab es hier Autos von unglaublichen Ausmaßen, die angesichts der beengten Verkehrssituation eine Groteske der Unvernunft waren. Luxuslimousinen und Sportwagen, zweistöckig wirkende Geländewagen, die ich aus den Anzeigen in den einschlägigen Gourmet-Magazinen kannte.
Nur selten parkte vor unserem Restaurant Vergleichbares. Wenn tatsächlich wohlhabende Gäste einkehrten, was in letzter Zeit immer häufiger geschah, fuhren sie mit dem Taxi vor. Ich winkte nach dem braun beschürzten Ober, einem schwuchtelig mit den Hüften tänzelnden Jüngling mit Pilzkopf, braun gebrannt und mit peinlichem Tattoo am Oberarm, der mich erwartungsvoll anschmachtete, und bestellte einen Cappuccino und einen Krokantbecher mit Sahne, seine begehrlichen Blicke ignorierend. Mit meinem hellen Leinenanzug fühlte ich mich inmitten der kurzen Röcke und dunklen Anzüge etwas deplatziert, ließ es mir aber nicht anmerken und genoss heimlich den Exotenstatus, der mir zufiel.
Mit dem Cappuccino und dem Eis kam die Maisonne. Sie gab ein kurzes Intermezzo zwischen den Dachmansarden zweier Geschäftshäuser. Zumindest für einen Augenblick erfüllten die Sonnenschirme ihren Zweck, bevor die langen Schlagschatten der Geschäftshäuser die Konsumschlucht wieder ins Dunkel tauchten.
Der Cappuccino schmeckte dem Preis entsprechend süß, das Eis war im American Style überdekoriert, die Waffel ungenießbar. Wo waren sie geblieben, die unzähligen Tauben, welche die Stadt hier früher besetzt gehalten hatten? Keine Baustellen mehr, keine verwahrlosten Fassaden, die in den Siebzigern noch mehrheitlich die Straßenzüge dominiert hatten. Alles wirkte aufgeräumt und fertig, Sonnenmarkisen, früher als Regenmarkisen verspottet, über jedem Schaufenster, Ton in Ton gehalten mit dem Putz der darüber aufragenden Fassaden, Auslagen wie für Fotografen arrangiert.
Man hätte den Eindruck gewinnen können, die Geschäfte konkurrierten gegenseitig in der Wiederholung des Weglassens. Keine Krimskrams-, Ramsch- und Teeläden mehr, kein Tinnef weit und breit. Die Mischung war weg, konzentrierte sich wahrscheinlich an anderen Orten. Hier herrschte gähnende Eintönigkeit. Selbst die großen Kaufhäuser, früher Vorwand, dringend in die Stadt zu müssen, Unordnung über die zahllosen Etagen mit ihrem Geflecht aus Rolltreppen und Lichtschächten verteilt, waren nur noch Rudimente ihrer selbst. Das also war mein erster Eindruck.
Um nicht in Melancholie zu verfallen, hatte ich ein Zimmer bei einer amerikanischen Hotelkette gebucht, sachlich und neutral, mit Angeboten, die mich nicht in Versuchung führten. Ich war nicht als Abenteurer gekommen und hatte keinen Bedarf an befristeter Gefolgschaft. Zwei Nächte mit der Option auf Verlängerung. Anelis hatte mir angeboten, bei ihr zu wohnen. Einen genauen Ankunftstag hatte ich ihr wohlweislich nicht mitgeteilt. Ich wollte keine Verpflichtung eingehen.
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