1 ...6 7 8 10 11 12 ...17 Die Herren standen am Billard; er breitete das Blatt darauf aus. Auch die Damen traten in Spannung dazu.
Helene traute ihren Augen nicht, als sie die fast ein Viertel der Seite einnehmende Überschrift gewahrte: „Le Kaiser et le Kronprinz conspués à Berlin.“ Laroche las die Depesche vor. Einwandfreie Zeugen des Vorfalls, die soeben mit grossen Schwierigkeiten aus Berlin entkommen und in Brüssel angelangt waren, berichteten darüber. Unter den Linden hatten sich die stürmischsten Szenen abgespielt. „Nieder mit dem Kaiser! Nieder mit dem Kronprinzen!“ hatte die Menge geschrien.
Der Notar begann seinen Bart zu streichen. „Der Anfang vom Ende ist da.“
„Aber wie steht es mit Lüttich, Papa?“ fragte Manon. „Noch immer nichts Sicheres?“
„Sie bombardieren Lüttich, die Boches, daran ist kein Zweifel. Aber die belgische Armee hat in Spaa zwei deutsche Ulanenregimenter vernichtet. Nicht schlecht als Vorspeise, wie? Die Wut der Belgier soll sehr gross sein, denn es steht zweifellos fest, dass die preussische Artillerie sich zu allererst immer die Ambulanzen als Ziel aussucht.“
„Das ist ja abscheulich!“ rief Geneviève. Mit grossen Augen sahen die drei Damen den Sprecher an.
„Der englische Vizekonsul hat mit dem Chefredakteur des ‚Echo‘ darüber gesprochen. Ins Abendblatt kommt ein fulminanter Artikel.“
Laroche meinte unbehaglich: „James Walker war nie mein Mann. Er hat mich da gestern zu einer Sitzung eingeladen — die englische Kolonie bereitet eine Adresse vor an den Maire —, aber ich bin nicht hingegangen.“
„Das ist unrecht, lieber Laroche.“
„Ich bin bei jedem patriotischen Werk — aber es darf nicht nur aus Schimpfen bestehen. Jetzt folgen einander überall die Wutausbrüche gegen die Deutschen. Scheiben werden eingeschlagen, Läden erbrochen, Waren geraubt. Diese Art von Patriotismus schätze ich nicht. Ich bin gegen jede Begeisterung, die durch Polizei in Schranken gehalten werden muss. Dann lieber ein bisschen weniger Begeisterung. Das bezeichnet die Höhe unserer Kultur: dass jeder Mann im französischen Volke in dieser Zeit die Polizei über sich selber ausübt!“
Manon bereitete den Tee, die Freundinnen halfen, es wurden Zigaretten geraucht, dazwischen kleine feine Kuchen geknabbert. André ass eine bestimmte Sorte von Makronen besonders gern, und alle Damen wussten es, grosse Schachteln davon waren ihm gleich in den allerersten Tagen der Mobilmachung von verschiedenen Seiten geschickt worden. „Von lauter glühenden Verehrerinnen natürlich,“ sagte er lustig neckend.
„Sie haben uns nun noch gar nichts von draussen erzählt, André. Pa muss endlich mit seiner Politik aufhören. Und seht nur, Helene hat schon eine ganz weisse Nase. Sie fürchtet immer, sie könnte auch noch aufgegriffen werden. O, Helene, Süsse, lass dich auslachen. Du hast doch mit den grässlichen Boches nichts gemein.“
Helene seufzte. „Mein Gott, so gereizt und planlos, wie jetzt überall die Menge ist ...!“
„Ja, und André Ducats Regiment?“ sagte der Major. Er machte eine militärische Verbeugung gegen Helene. „Ich bitte, zu verfügen, Madame Martin. Sie rufen — ich komme. Sie wünschen — ich befehle — und viertausend Mann meines Regiments gehorchen und stehen zu Ihrem Schutz bereit.“
„Nun wirst du doch sicher sein?“ meinte Geneviève. „Viertausend Mann!“
„Und wenn Sie mich ganz allein rufen — ohne Regiment — können Sie sich gerade so geborgen fühlen.“
„Ich würde auf das Regiment lieber doch nicht so ganz verzichten,“ sagte Helene lächelnd, schon ein bisschen sicherer geworden. Sie gab ihm aus plötzlichem Antrieb beide Hände. „Es ist lieb von Ihnen, dass Sie sich meiner annehmen wollen.“
„In jeder Hinsicht. Auch als Ersatz für den guten George — natürlich nur so lange, bis er zurück ist.“
„Kann der Mensch auch nur drei Minuten ernst bleiben?“ rief Manon und lachte.
„Warum soll ich durchaus ernst sein? Dafür ist Vetter Léon da. Seht euch bloss seine Miene an. Der Prediger in der Wüste.“
„Es stösst mich ab, André, in dieser Zeit leichtfertige Reden zu hören. Und auch den Damen muss ich ernste Vorhaltungen machen. Jawohl. Die Stunde fordert Opfer. Von jedem. Warum ist keine von den Damen beim Wohltätigkeitswerk tätig?“
Laroche nahm sofort seine Tochter in Schutz. Geneviève — das wusste Helene zu bezeugen — war vom frühen Morgen an im nationalen Interesse beschäftigt. Sie hatte Laroches Listen für die Unterstützung von Frauen und Kindern begonnen, deren Ernährer ins Feld abmarschiert waren. In aller Stille, mit viel Gewissenhaftigkeit, Fleiss und Überlegung wollte diese Arbeit geleistet sein, denn es waren sonst keine Hilfskräfte dafür tätig, sie ging von keinem Komitee aus, an dessen Spitze sich zahlreiche vornehme Damen befanden, sondern sie war Laroches eigenes Werk. Er entwickelte in seiner natürlichen Art, wie er sich diese Aufgabe gedacht hatte. Da die städtische Unterstützung nicht ausreichen konnte, wollte er die allerschlimmsten, allerdringlichsten Fälle heraussuchen, für die etwas Besonderes geschehen musste. Er hatte von sich aus zunächst einmal fünfzigtausend Francs dafür ausgeworfen, und er hoffte, dass mit der Zeit auch die reichen Bürger der Stadt sich durch Spenden beteiligen würden.
„Sicher, sicher,“ sagte der Notar. „Denn der Plan ist gut, ist hochherzig.“ Aber es fiel Ducat nicht ein, auch nur tausend Francs selbst zu zeichnen. Immer hörte er an Laroche vorbei.
André hatte für die wohltätigen Damen nur Spott. In Armentières hatte er sie in den Schulen und Werkstätten beobachtet, wie sie die Monturen auf Festigkeit der Nähte und der Knöpfe durchsahen. „Eine einzige gelernte Arbeiterin leistet mehr als ein Dutzend von diesen verwöhnten, feinfingerigen Damen. Und nun erst in der Krankenpflege — o mein Himmel! In gesundem Zustand sich den holden Wesen in die Hände zu liefern ist schon gefährlich — aber man denke: hilflos, als Verwundeter, ihnen preisgegeben zu sein!“
Der ernste Vetter nahm nie für voll, was der Major sagte. Aber auch Laroche erklärte den Dilettantismus, der sich jetzt plötzlich auf allen Gebieten breit machte, für bedenklich. „Was für Pflänzchen hier ins Rote Kreuz eingetreten sind — Sie sollten den Transport gesehen haben, Ducat, der heute früh von Roubaix abging! Und die Stimmung unter den Ärzten ist wenig schön. Mein Neffe, der Pierre, wollte sich freiwillig melden. Bei einem Militärlazarett anzukommen, ist aber ganz ausgeschlossen. Es gibt dort zu viel Käppis mit rotsamtenen, goldbetressten Streifen. Und solche Zerfahrenheit herrscht da. Krankenwärter laufen fort; Chefärzte sitzen in den Kaffeehäusern herum.“
„Laroche — aber ich bitte Sie ...“ Entsetzt strich der Notar seinen Bart, immer heftiger, immer heftiger.
„Ich finde es nicht nett, dass wir uns wegen dieser Geschichten in die Haare geraten,“ lenkte André ein. „Ich für mein Teil freue mich jedenfalls aufrichtig darüber, dass keine unserer holden Freundinnen Chlorschwester geworden ist.“
Endlich drang Andrés lustigerer Ton durch. Manon reizte ihn immer wieder. Es war alles, was er sagte, gewagt, aber er hatte eine so keck erfrischende, trotz seiner Jahre manchmal bubenhaft drollige Art, dass man ihm nicht gram sein konnte.
Laroche hatte den Hausherrn beiseite genommen. Ihm müsse es doch eine Kleinigkeit sein, droben auf der Präfektur durchzusetzen, dass endlich einmal der Fall Martin klargestellt würde. Er selbst konnte bei diesem verknöcherten Bureaukratismus, auf den er dort allenthalben stiess, nichts durchsetzen.
Der Notar strich seinen Bart und machte ein sehr, sehr ernstes Gesicht. Gefälligkeiten von ihm zu erreichen, hielt schwer. Fast stets gab es da Prinzipien, hinter denen er sich verschanzte. Auch in dieser Angelegenheit hielt er im Interesse von Laroches Schützling ein Eingreifen nicht einmal für ratsam.
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