1 ...8 9 10 12 13 14 ...17 „Kann man — ihr — nicht helfen?“ brachte Helene, schluckend vor Angst und Aufregung, hervor.
„Still!“ flüsterte Geneviève ihr zu, fast scharf, unter einem erschrocken verweisenden Blick. Der Trupp war schon vorüber. Die unglückliche Deutsche hatte Helene auch nicht erkannt.
„Nur nicht auf der Strasse je sich in Händel einmischen!“ sagte Laroche, die Stirn runzelnd. „Die Menge lässt sich nie belehren. Gehen wir weiter.“
Helene versagten die Knie und die Sprache. Sie hängte bei Geneviève ein. Die Tränen steckten ihr in der Kehle. Was sollte aus ihr werden, wenn plötzlich einmal solcher Pöbel sich auf sie stürzte? Konnte Laroche sie schützen — wollte er dann es noch? Und André Ducat?
Sie hörte nichts von der Unterhaltung der anderen. Die Angst steigerte sich in ihr krankhaft.
Als sie an der Rue de Pas in den Strom der Rue Nationale gerieten, übertönte das Geschrei der Zeitungsausrufer alle anderen Geräusche. Dabei rief einer dem anderen den Inhalt der fettgedruckten Zeilen zu, die in Hast überflogen wurden. Im Nu hatten auch Ducat und Laroche die neueste Abendausgabe an sich gebracht. Im Laternenschein lasen sie; die beiden Damen mussten dicht an sie herantreten. Es waren die Pariser Telegramme vom 8. August. Ducat las laut, ab und zu abgelöst von Laroche. „Noch immer halten die tapferen Belgier die Forts von Lüttich — die Deutschen räumen die Stadt, erschöpft nach zweiundsiebzigstündigem Kampf — Belgier haben fünfzehn Fahnen, zwanzig Kanonen, mehrere tausend Gewehre erbeutet, zahlreiche Gefangene gemacht, darunter den Prinzen Georg von Preussen ...“
„Ein Sohn vom Kaiser?“ fragte Geneviève funkelnden Auges. „Helene, weisst du?“
„Nein, einen Prinzen Georg — gibt es wohl nicht unter den Söhnen des Kaisers.“ Helene sagte es atemlos, ihr Herz klopfte, sie fühlte noch immer dies innerliche Zittern.
„Ein Neffe des Kaisers muss es sein,“ sagte Laroche, der weiter gelesen hatte.
Und dann riss André Ducat aus dem Zusammenhang noch ein paar kurze Nachrichten heraus. „Die Demoralisation der Deutschen — deutsche Offensive bei Lüttich gebrochen — Verpflegungsmangel der Deutschen — die Deutschen bitten um Waffenstillstand, der abgeschlagen wird, — die Deutschen aus Mülhausen und Neubreisach geworfen ...“
„Nicht übel — so eben noch vor dem Abendessen!“ sagte ein fremder Herr, der keine Zeitung mehr erhalten und als Kiebitz an der Vorlesung teilgenommen hatte. Er grüsste leicht, die anderen nickten. Und fröhlich vor sich hinsummend nahm der Major den Marsch wieder auf.
Es waren nun nur noch ein paar hundert Schritt bis zur Mairie. Aber Helene schleppte sich nur mühsam weiter. Es war ihr, als habe ihr eine rohe Faust in die Kniekehlen geschlagen.
Auch vor dem Rathaus mit den beiden überhohen Portalen drängte sich die Menge. Noch viel Stellungspflichtige, die mit ihren Frauen, Müttern, Kindern kamen, um die Unterstützung für die Zurückbleibenden in die Wege zu leiten.
„Wieviel Jammer!“ sagte Geneviève.
Laroches Augen blitzten. „Die Hand, die die Schuldigen züchtigen wird, hat sich schon hoch in den Himmel gehoben, um zerschmetternd zuzuschlagen,“ sagte er.
„... Hallo, da ist ja unser Freund Drachman!“ rief Ducat.
Die Luchsaugen des Unterleutnants hatten die Ankömmlinge auch schon entdeckt.
Er zeigte sein weisses Gebiss für einen Augenblick, während er näherkam, machte dann aber die übliche Dienstmiene, als er seinem Chef berichtete.
Ducat nahm sofort Helenes Hand, pätschelte sie und sagte:
„Also, meine Liebe, die Sache ist längst perfekt. Die Urkunde ist schon vor drei Wochen von der Präfektur an die Mairie gegangen, sie liegt da aber noch ganz friedlich in der Aktenmappe des zweiten Botenmeisters — und mit dem windigen Herrn hat Ebenezer soeben im Estaminet ‚Zum grünen Sänger‘ einen Bock Tartarat getrunken.“
„Herr Drachman — lieber Herr Drachman — es ist wahr —?!“ Helene war mit zwei hastigen Schritten auf ihn zugegangen. „Und warum hat der Mann so lange gezögert?“
„Bureaukratismus! Und Herr Martin befand sich auf Reisen, sagt er. Und jetzt sei so viel zu tun gewesen. Aber ich habe ihm ein gutes Trinkgeld versprochen, und nun ist er Hals über Kopf nach dem Bureau.“
Helene besprach sich rasch mit den Herren. „Ich werde ihm hundert Francs geben, nicht?“ Sie nestelte gleich in ihrem Täschchen, fand aber kein Gold.
„Ich leg’ es aus,“ sagte Laroche und ging mit Drachman beiseite.
„Wenn Ebenezer ihm mehr als hundert Sous gibt, lass’ ich mich frikassieren,“ sagte der Major verschmitzt lachend zu Geneviève.
Im Hof der Mairie fand dann die Übergabe statt. Helene öffnete hastig, mit ungeschickt gewordener Hand Amtssiegel und Brief und las. Die Urkunde war vom 11. Juli datiert.
„Ob George es schon weiss? Wie erreiche ich ihn nur? ... Ach, mir ist ja eine Zentnerlast vom Herzen genommen!“ Helene teilte immer wieder Händedrücke aus. Und mitten im Hof umarmten sich dann die beiden jungen Damen, wobei freilich ihre Hüte aneinanderstiessen und ihre Frisuren in Unordnung gerieten.
„Im Grunde habe ich den Kuss von Frau Martin verdient,“ sagte der Major, als er sich verabschiedete. „Sie müssen ihn mir gelegentlich wiedergeben, Fräulein Geneviève.“
„Er weiss sich doch immer einen guten Abgang zu machen,“ sagte Geneviève, „wie der Bonvivant in den älteren Lustspielen.“
„Dass es gerade wieder die älteren sein müssen, Fräulein Geneviève ...!“ rief er ihr noch zu.
In fröhlicher Stimmung kehrten sie nach Hause zurück.
Mama Laroche wartete schon ungeduldig. Sie nahm die Küchenangelegenheiten sehr wichtig. Es war höchste Zeit, dass die Fleischpastete, die es zum Abendessen geben sollte, vom Feuer kam, sonst verbrutzelte sie.
Laroche berichtete von den grossen Siegen über die Deutschen. Eifrig fiel seine Frau ein: ja, nebenan hätten sie die Nachricht gebracht, dass der Deutsche Kaiser gefangen sei.
„Ein Neffe von ihm, nur ein Neffe,“ sagte Laroche.
„Schade. Aber jetzt zu Tische!“
Es war ein sehr angeregter Abend. Nach dem Essen wurde noch musiziert. Berthe hatte ein vierhändiges Arrangement des Militärmarsches „Sambre et Meuse“ gekauft. Helene musste sich mit ans Klavier setzen. Sie spielten das Stück ziemlich fehlerfrei vom Blatt. Es lag etwas Zündendes in Melodie und Rhythmus. Laroche summte den melodischen Mittelsatz mit. Seine Stimme war wunderschön. Immer wieder wollten sie das Stück hören.
Als Helene hernach oben in ihrem Schlafzimmer vor dem Spiegel sass und ihr Haar für die Nacht zurechtmachte, ging ihr die Weise noch immer im Kopf herum. Die grausame Spannung, die sie all die Tage hindurch festgehalten hatte, war endlich, endlich von ihr genommen. Welch eine glückliche Wendung! Ja, es war ein Glück — trotzdem leider Mahnungen, die ihr geheimnisvolle Stimmen wie aus Urvätertagen zuzuraunen schienen. Hier war ihre Heimat, hier, wo sie mit George glücklich war. Als sie sich in die seidene Decke hüllte, erfüllte sie nur der Wunsch: so rasch als möglich ihm Nachricht zu geben, damit er aus seiner furchtbaren Lage befreit werde.
Manon suchte an Helene gutzumachen, was ihr Vater in seiner oft unbegreiflichen Art verfehlt hatte. Täglich suchte sie die Freundinnen in der Inkermanstrasse auf, und dann gab es immer ein stürmisches Stündchen. Manon war nun einmal für Sensationen geschaffen. Die Unruhe über das Schweigen ihres Gatten äusserte sich anders als bei anderen Lillerinnen, die ihre Männer oder Brüder oder Söhne hatten ins Feld ziehen sehn. Die meisten von denen lebten still und zurückgezogen, fast ganz für sich. Das war Manon unmöglich. Sie brauchte Anregung, Zerstreuung, sie musste über das, was sie bewegte, sprechen. Ihre blauen Augen, die so puppenhaft strahlen konnten, zeigten jetzt manchmal Angst, wilde Erregung, Kummer, Schmerz. Sie beobachtete sich selbst im Spiegel und ward gerührt, wenn sie sah, wie sich ihre Augen allmählich mit Tränen füllten. Freilich konnte sie, war erst die Entladung vorbei, verblüffend schnell auch wieder ihre Tonleitern lachen.
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