Paul Oskar Höcker
An der Spitze meiner Kompagnie
Drei Monate Kriegserlebnisse
Saga
Das Schwerste ist überstanden: der Abschied. Frau und Kinder standen im Garten und winkten dem Auto nach, das von Westend nach dem Anhalter Bahnhof eilte. Man hat die Zähne zusammengebissen und hat das Taschentuch noch ein Weilchen flattern lassen und hat ein fröhliches Gesicht gemacht. In der Villenstrasse alles noch ganz still. Aber vorn, am Reichskanzlerplatz, stehen die Frauen vor den Läden und sprechen über die Mobilmachung. Dem Friseur sind seine Gehilfen genommen, dem Kaufmann seine Austräger, dem Blumenhändler seine Binder. Das Butterfräulein winkt mir zu, als das Auto um die Ecke biegt.
Ich bin noch nie mit so wenig Handgepäck auf so grosse Fahrten ausgezogen. Immer ist mir’s, als müsst’ ich etwas vergessen haben. Aber das ist wohl nur der innere Draht, der einen noch mit seiner Heimat verbindet und auf dem Depeschen hin und her gesandt werden, innige Friedensdepeschen im hellen Kriege, die ihr Ziel ohne abstempelnde Beamte finden müssen.
Nur keine Bahnhofsabschiede! Sie tun mir leid, die Pärchen, die Gruppen mit den nassen Augen, mit den letzten schmerzenden Küssen. Noch fünf Minuten, noch drei... Einsteigen!... Ich schnalle den Säbel ab, den gestern der Waffenmeister geschliffen hat, nehme Platz, und der endlose Militär-Lokalzug rollt langsam aus der Halle hinaus in die blendende Sonne.
Ja, der Abschied war doch das Schwerste. Die ungeheuerliche Vorstellung, dass man etwa mit Zehntausenden, Hunderttausenden zusammen zerschmettert am Boden liegen sollte, dass man an all den dringenden Geschäften der Familie, des Hauses, der Arbeit niemals mehr irgendwelchen Anteil haben sollte. Noch so viel Pläne birgt der Kopf, noch so viel Wärme das Herz, noch so viel Kraft der ganze Kerl ...
Aber ein einziger Blick auf den Bahnsteig beim ersten Halten des Zuges — und wir halten oft, weil überall noch Leute aufgenommen werden — macht uns bescheiden. Wir sehen Freunde, Bekannte. Ein fröhlicher Zuruf. Und blitzschnell der Gedanke: Der braucht für die Seinen sein Leben genau so dringend wie du. Und keiner ist wichtiger als der andere. Und von dieser Stunde ab sind wir alle Brüder. Und die wichtigen, dringenden, unaufschiebbaren Geschäfte des Berufes haben alle, alle Zeit. Es gibt nichts Wichtiges mehr unter der Sonne, ausser diesem furchtbaren, welterschütternden Ereignis des uns aufgezwungenen Krieges nach drei Fronten.
„Hallo, Paul Oskar!“ ruft’s aus dem Nachbarwagen.
„Tovote!“ — Richtig, es ist Heinz Tovote, der zu seiner bayerischen Landwehrbrigade fährt. In den Dolomiten hat ihn die Kunde von der Mobilmachung überrascht. In dreissigstündiger Fahrt hat er Berlin erreicht — und das Wichtigste, was es jetzt für uns Wehrleute gibt: seine Feldausrüstung.
Auf der nächsten Station entdecken wir den Bildhauer Hans Dammann. Er ist Kompagnieführer in demselben Landwehrregiment wie ich. Und da ist ein Geheimrat, ein Landgerichtsdirektor, ein Bürgermeister, ein Oberlehrer, die ich öfters auf Festen der Landwehrinspektion traf. „Auch Wittenberger?“ Man schüttelt sich die Hand, freut sich, und die Schrecken des Krieges sind schon fast vergessen, man sieht nur noch famose Kameraden.
Nach vier Stunden landen wir in der alten Lutherstadt. Es geht zum Regimentsgeschäftszimmer. „Hauptmann der Landwehr ersten Aufgebots Höcker vom Bezirkskommando I Berlin meldet sich ganz gehorsamst...“
Und dann treffen am Nachmittag die endlosen Züge mit den dreitausend Wehrleuten ein. Immer neue Transporte. Wittenberg ist ein einziges Heerlager. Das stampft auf neuempfangenen Nagelschuhen über das Pflaster, das singt und schwatzt, ruft alte Kompagniekameraden an. Drollige Bilder gibt’s dabei. Auf den Kammern hat sich der Zivilist in einen halben Soldaten verwandelt. Der Helm schmückt schon das Haupt; aber der Uniformrock, der erst beim Regimentsschneider verpasst werden muss, ist noch durch die Ziviljacke ersetzt. Hunderte wandern so durch die Strassen ihren Bürgerquartieren zu. Es wird zehn Uhr abends, bevor die Lastenbündel mit Stiefeln, Lederzeug, Tornister, Mantel, Wäsche, Büchsen und Patronentaschen aus dem Strassenbild verschwinden.
In der Kavalierkaserne treffen die Autos ein, die vor der Brücke angehalten wurden. Eine junge Frau in grosskariertem Reisekleid beteuert mit überraschend ausdrucksvollem Mienenspiel, sie sei wahrhaftig keine Russin, sie sei Dänin, und ihr Name sei...
Sie braucht ihn gar nicht erst zu nennen. Ein Trüpplein Offiziere, im Begriff, den Kasernenhof zu verlassen, erkennt sie sofort. Es ist die Asta Nielsen. Mit Mann und Schwester will sie nach der Schweiz ausrücken. Sie hat grosse Bange vor den Gewehren mit den aufgepflanzten Bajonetten. Der Bataillonsadjutant und der Verpflegungsoffizier nehmen sich der Reisenden an und geleiten sie nach dem Hotel, wo sie bei einem Glase Sekt der liebenswürdigen neutralen Macht allerlei Auskünfte auf neugierige Fragen geben. Wohin unser Regiment zieht? Das wissen wir freilich selber nicht; und wüssten wir’s, so dürften wir es nicht verraten. Aber die Herren bemühen sich, der schwarzäugigen Filmkönigin einen möglichst guten Begriff von der hohen Kultur unserer Wehrleute beizubringen: In keinem Tornister fehle eine Nagelpflege, ein Fläschchen Odol und Pariser Hautcreme. — „Das ist Vorschrift?“ — „Unnachsichtig wird darauf gehalten!“
Nun sind auch die Pferde feldmarschmässig ausgerüstet. Satteltaschen mit Putzzeug, Reserveeisen, Marschhalfter, Woilach usw. lassen die beiden munteren Stuten, die mich und meine Frau oder meine Töchter tagtäglich durch den Grunewald trugen, bedeutend weniger elegant erscheinen. Die Tiere blicken gespannt um sich, spitzen die Ohren, mustern den neuen Pfleger. Es ist ein prächtiger junger Landwirt, der Bursche, den ich mir aus meinen zweihundertfünfzig Mann herausgesucht habe. Dass er tierlieb ist, merke ich schon beim ersten Futtern. Ich frage ihn nach seiner Heimat. Eine Frau und zwei Kinder lässt er daheim. „War’s Ihnen traurig, Günther?“ Er lächelt ein bissel wehmütig. „Ach, Herr Hauptmann, traurig war nur der Abschied. Jetzt ist’s überstanden.“ Ich nicke und lache ihm zu. „Wir werden sogar noch lustig werden, Günther! Was? Und wenn wir erst in der Bahn sitzen, werden wir’s kaum erwarten können, über die Grenze zu kommen, gleichviel ob’s nach Ost oder West geht.“
Und die Arbeit nimmt uns in ihren tröstlichen Schutz. Ja, ja, der Abschied war doch das Schwerste.
Die Fahrt ins Aufmarschgelände
So schön war Deutschland nie zuvor. Vom Fenster des Militärtransportzuges ans hat man die deutsche Landschaft aufs neue innig lieben gelernt. Der Zug ist zusammengesetzt aus Sekundärbahnwagen, Stadtbahnwagen, Viehwagen und offenen Loren. Er benutzt hier ein Stück der D-Zug-Linie, dort ein fast unbekanntes Kanonenbähnchen. Auf der Karte erscheint die Strecke wie im Zickzack geführt. Und das Tempo atmet Ruhe. Alle paar Stunden gibt’s einen Halt, die Mannschaften dürfen aussteigen, werden gespeist durch Feldverpflegung oder doch erquickt durch Liebesgaben der Bevölkerung. In wunderbarer Ordnung vollzieht sich das alles. Es gibt keine Minute Verspätung. Es ist, als habe der Generalstab diese Truppentransporte hundertmal geübt und veranstalte jetzt eine Parade seiner Schlagfertigkeit vor dem deutschen Volk.
Am Abend, in tiefer Nacht und im ersten Morgengrauen hat unser Landwehrregiment die Garnison verlassen. Meine Kompagnie rückt nachts um zwei Uhr vom Kasernenhof ab. Überall blitzen kleine Scheinwerfer auf: die Korporalschastsführer, die Zugführer mustern ihre Leute mit elektrischen Taschenlämpchen. Hat jeder Mann alles mit? Noch ist Zeit, Vergessenes heranzuschleppen. In einer Stunde entführt uns der Zug, und Nachsendungen erreichen uns vielleicht erst nach Wochen. In dem Zwielicht der mondbeglänzten Sommernacht sehen die feldgrauen Ungetüme mit den spitzen Helmkappen und hochbepackten Tornistern wie Fabelwesen aus. Und wir Offiziere gleichen Beuteltieren: an Riemen und Feldbinde tragen wir die kleine Kofferlast von Armeerevolver und Feldstecher, Kartentasche, Brotbeutel und Feldflasche.
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