Unser Auftrag ist schwer und ernst. Wir sollen das Gebiet bis zur Maas von Franktireurs säubern. Alle Tage wird aus dem Hinterhalt auf unsere durchziehenden Truppen, besonders auf kleinere Abteilungen, auf Meldereiter, Radfahrerunteroffiziere, Militärkraftwagen geschossen. Da gilt es nun endlich, scharf durchzugreifen. In einer klar und energisch abgefassten Proklamation ist den Einwohnern der von uns besetzten belgischen Gebietsteile kundgetan worden, dass alle Waffen, alle Munition, alle Sprengstoffe innerhalb der nächsten Stunden abzuliefern sind. In breiter Front bewegen sich nun mehrere Landwehrbrigaden westwärts, um das Land von solchen Marodeuren zu säubern. Jedem Bataillon ist sein Gebiet zugewiesen. Von meinem Kommandeur — einem prächtigen Feldsoldaten, einem Oberstleutnant, der 32 Jahre in der Front gestanden hat — habe ich den besonderen Marschbefehl für meine Kompagnie. Ein paar hundert Meter vor der belgischen Grenze machen wir einen Halt. Meine Leute wissen, um was es sich handelt. Wir wollen nicht wie die Barbaren hausen, aber es gilt, mit aller Strenge vorzugehen. Ich werde in jedem Gehöft, das ich auf Waffen usw. zu durchsuchen habe, dem Besitzer noch eine letzte Möglichkeit geben, mir die bei ihm auch jetzt noch verborgenen Waffen abzuliefern. Erklärt er, keine zu besitzen, und werden welche bei ihm gefunden, so muss er auf der Stelle füsiliert werden. Häuser, aus denen Angriffe erfolgen oder in denen der Durchsuchung Widerstand entgegengesetzt wird, werden sofort niedergebrannt.
Schweren Herzens vorwärts. Rechts liegt noch neutrales Gebiet, bei Moresnet, in dem „Das Heiratsdorf“, der hübsche Roman von Nanny Lambrecht, spielt, dann beginnt rechts der von Franktireurs viel belästigten Strasse nach Lüttich belgisches Gebiet; deutsches Gebiet begleitet die Strasse noch eine Strecke weit links. Nicht weit von Moresnet liegen mehrere Gehöfte: Jungbusch, Hoof und zwei Abbauten. Ich entsende dahin meine vier Offiziere mit je drei Gruppen zur Durchführung und reite mit der ersten Abteilung nach Jungbusch mit. Eine schwarzweissrote Flagge weht von der grossen Linde vor dem Haus. Kein Haus ist hier ohne deutsche Flagge. Im Augenblick, da wir das Zauntor öffnen, nimmt ein junger Bursche nach dem nahen Wäldchen hin Reissaus. Ich sprenge ihm nach, aber die hier üblichen übermannshohen Weissdornhecken machen eine Verfolgung unmöglich. Eine Frau erscheint auf unser Rufen. Ob sie allein im Hause sei? Allein? Nein, sie habe eine Tochter von 15 Jahren. Sonst niemand? Zögernd setzt sie hinzu: Ja, ihr Mann sei auch daheim. Die Wehrleute dringen ein und holen ihn. Der Leutnant lässt die Gewehre fertig machen, die Zivilisten müssen vor den Zaun des Gemüsegartens treten, und ich ermahne die Hausbewohner, so eindringlich ich kann, alle Waffen abzuliefern, die sie noch im Hause haben. Der Alte schwört, er habe nie eine Waffe besessen. Sein Sohn sei seit mehreren Tagen unterwegs. Ob der eine Schusswaffe besitze? Alle drei heben beschwörend die Hand hoch: Nein, er sei ein friedfertiger Mensch, habe nie, niemals eine Waffe in der Hand gehabt. Aber in dieser Gegend ist häufig aus den Hecken heraus geschossen worden. Wir müssen das Haus von oben bis unten durchsuchen. Ein letztes Mahnwort: „Sie wissen, dass jeder Zivilist, der jetzt noch im Besitz einer Waffe betroffen wird, mit dem Tode bestraft werden muss?“ — „Wir haben keine Waffen!“ beteuern sie noch einmal. Und die Mannschaften verteilen sich auf Keller- und Wohnräume, Geräteschuppen und Stall, durchforschen den Garten und das Umland nach frischen Grabestellen. Vor den Gewehrläufen mit den aufgepflanzten Seitengewehren stehen die drei Leute und halten meinen Blick ruhig aus. „Wer war der Bursche, der da vorhin aus Ihrem Hause echappiert ist?“ frage ich den Alten. „Haben Sie mir in letzter Sekunde noch ein Geständnis zu machen?“ Der Alte faltet die Hände. „Nein, Herr Offizier, als Mann von 72 Jahren schwöre ich Ihnen zu“... Und da geschieht das Grässliche. Ein Unteroffizier und ein Wehrmann schleppen einen jungen Burschen aus dem Haus. Sie haben ihn auf dem Boden im Stroh versteckt entdeckt. Er hatte ein mit fünf Patronen geladenes belgisches Gewehr in der Hand. Aus der Dachluke mag er manch ehrlichem Deutschen nach dem Schädel oder der Brust gezielt haben. Der Bursche hat die Hände emporheben müssen. Schlotternd, käsebleich steht er da. „Wer ist dieser Bursche?“ frage ich den Alten. Sie sind alle drei auf die Knie gefallen, wie vom Blitz gefällt, und lamentieren. Die Frau kreischt: „Es ist mein Sohn! Um Gottes willen. Sie wollen ihm doch nicht ans Leben?!“ ... Und die Fünfzehnjährige heult herzbrechend. Der Festgenommene will entwischen und wird von den Mannschaften an die Hausmauer gestellt.
Ich muss mir gewaltsam das Bild ausmalen von den diensteifrig in die Nacht hinausreitenden deutschen Patrouillen, um deren Helme die Kugeln heimtückischer Franktireurs sausen, muss mir so recht eindringlich die sehnigen Gestalten und leuchtenden Augen unserer guten deutschen Jungen vorstellen, um diesem Jammer gegenüber Herr meiner Nerven zu bleiben und dem Befehl nachzukommen. „Er wird erschossen. Drei Mann. Fertig.“
Und von den drei Wehrleuten — es sind Familienväter, zwei Berliner und ein Landwirt — zuckt auch nicht einer mit der Wimper. Diese Sache ist gerecht. Hier ist ein Schurke gefasst, der kein Mitleid verdient. Die Salve kracht. Der schlotternde Körper sinkt in sich zusammen und rührt sich nicht mehr. In der blauen Bluse sind drei winzige Öffnungen zu sehen. Die Augen sind geschlossen, das Gesicht hat den Ausdruck überhaupt nicht gewechselt. Der Tod durch unser Gewehr ist schmerzlos. Aber auf belgischen Strassen sind deutsche Soldaten von bübischem Gesindel wie diesem am Boden liegenden Strauchräuber angeschossen und, als sie wehrlos zusammenbrachen, grausam verstümmelt worden.
„Man müsste dem Halunken, dem Alten, die ganze Bude überm Kopf anstecken!“ meint der Flügelmann.
„Abmarschiert!“ befehle ich.
Die drei Leute liegen noch immer auf den Knien, der Tote liegt an der Mauer.
Im Verlauf des Tages habe ich noch zweiundzwanzig Gehöfte abzusuchen, die zu den Fermen Weisshaus, Chapelle, Hockelbach und Haut Vent gehören. In neun Häusern liefern die Besitzer ihre bis jetzt verborgen gehaltenen Schusswaffen noch gutwillig ab. Es befinden sich alle Sorten darunter: Pistolen, Doppelpistolen, Revolver, Jagdflinten, Teschings, Infanteriegewehre, Karabiner.
Abends treffe ich mit meiner Kompagnie in Thimister ein. Hier harren meiner auf dem Markt schon der Maire, der Curé und der Vicaire, um mir zu versichern, dass sie die Einwohnerschaft eindringlichst ermahnt haben. Die abgelieferten Waffen, die im Rathaus liegen, übernehme ich, um sie vernichten zu lassen.
Ein schwerer Tag ist herum.
Die Mannschaften meiner Kompagnie bezogen Massenquartiere: im Rathaus von Thimister, in der Schulstube, in ein paar Scheunen. Ich ging von Quartier zu Quartier und ermahnte die Leute, auf der Hut zu sein, stundenweise einen Mann zum Wachbleiben zu bestimmen und die geladenen Gewehre für alle Fälle bereit zu halten. Überfälle von Franktireurs seien hier an der Tagesordnung, auch in den Häusern untergebrachte Mannschaften seien in diesem Gebiet, das von Lütticher Gesindel überschwemmt ist, ihres Lebens nicht sicher. Sie sollten auch nichts trinken, von dem der Quartiergeber nicht vor ihren Augen selbst getrunken habe.
Und dann sass ich mit meinem ältesten Zugführer, dem Professor der orientalischen Sprachen, bei unserem Wirt, dem jungen Vicaire; wir hatten eine angeregte französische Konversation über die Präraffaeliten, über türkische Dialekte und über neue Rosensorten, die Lyonrose, die Juliette, die Soleil d’or, und es war gar nicht, als ob man in Feindesland sei. Erst als ich gegen Mitternacht in dem unheimlich grossen Schlafzimmer mich auszog und entdeckte, dass die drei Türen unverschliessbar waren, graulte ich mich ein bisschen.
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