Paul Oskar Höcker
Der Preisgekrönte
Roman
Saga
Der glücklichste Mensch an Bord ist die kleine Dodo. Dabei hat sie die schlechteste Kabine des ganzen Schiffes, dicht vor der Schraube im F-Deck. Seit der Sturmfahrt durch den Golf von Biskaya ist das Bullauge, da es nur zwei Handbreit über der Wasserlinie liegt, nicht mehr geöffnet worden.
Aber Dodo ist seefest. Dodo hat Nerven wie Stricke. Wie hätte sie sonst drei Wochen lang in diesem schwimmenden Ferienhotel ihr schweres Amt versehen können? Denn sie fährt nicht wie die anderen Schiffsgäste, die sich soviel ärgern, zu ihrem Vergnügen mit; das wäre ja der hohen Kosten wegen ganz ausgeschlossen. Als Sekretärin des Reiseleiters der Reederei wird sie von jedem einzelnen Schiffahrtsdilettanten dieser Ozean- und Mittelmeerreise für sämtliche Störungen im Programm verantwortlich gemacht. Wenn die Fahrgäste mit der Verteilung der Autos, der Ochsenschlitten, der Hotelzimmer und der Tischplätze auf den Landausflügen unzufrieden sind, so ist sie der Prellbock, der den ersten Ansturm aushalten muss. Eine Dame aus Kötzschenbroda hat sich bei ihr darüber beschwert, dass man ihr die ausdrücklich bestellte Kabine „nach der Sonnenseite“ nicht gegeben habe. Ein Herr aus Tuttlingen, der eine neugekaufte Tropenausrüstung mitführt, macht ihr die farbeglühenden Werbeprospekte der Reederei zum Vorwurf. Grässliche Drohungen stösst er aus: er wird im Tuttlinger Anzeiger diesen ganzen Hamburger Schwindel aufdecken! Zwischen Lissabon und Madeira hat man einen wahren Orkan erlebt — der Pik von Teneriffa ist in dem Bindfadenregen überhaupt nicht sichtbar geworden — in Granada hat man sich in den eiskalten Hotelbetten einen Riesenschnupfen zugezogen — und das nenne der Reedereiprospekt eine Frühlingsfahrt ins Reich der ewigen Sonne!
Aber man muss die glückstrahlenden Augen der kleinen Dodo sehen, man muss den herzlichen Klang ihrer warmen Altstimme hören, wenn sie hier zuspricht und aufrichtet, dort bittet und vertröstet.
Herr von Glüher, der Leiter des Hamburger Reisebüros, hat Fräulein Dodo Hartmann freilich nicht nur ihrer schönen dunkelbraunen Augen und ihres sympathischen Alters halber von der Schreibmaschine im Expeditionsbüro weggeholt, sondern lediglich wegen ihrer perfekten Kenntnisse im Spanischen.
Fräulein Hartmann ist noch jung, sie hat am 10. Februar 1924, gerade an dem Tag, an dem der „General San Pedro“ seine erste Vergnügungsreise nach Krieg und Inflation antrat, ihren zweiundzwanzigsten Geburtstag gefeiert (ausser dem Zahlmeisterassistenten, der es aus ihrem Pass ersah und sehr wohlwollend gratulierte, hat niemand davon erfahren). Spanisch treibt sie jetzt schon im sechsten Winter. Als ihr Onkel August, der in Santiago ansässig war, aus der englischen Kriegsgefangenschaft zurückkam, im November 1918, hat er ihr das nahegelegt. Sie ist Waise seit ihrem vierzehnten Lebensjahr. Ihr Vater fiel als Oberstabsarzt in Russland, als sie noch im Landerziehungsheim war. Ihrer frühverstorbenen Mutter kann sie sich kaum entsinnen. Onkel August hätte sich nach dem Tod ihres Vaters gewiss gern ihrer angenommen, aber damals sass er ja hinterm Stacheldraht von Handforth bei Manchester. Inzwischen haben sich seine Vermögensverhältnisse, seine Lebensumstände überhaupt, sehr verschlechtert, aber er hat seine kleine Nichte trotzdem fortlaufend unterstützt, bis sie in Hamburg ihre erste auskömmlich bezahlte Stellung fand. Sie solle nur fleissig Spanisch lernen, hat Onkel August sie immer wieder ermahnt, hat ihr auch oft ihre spanisch geschriebenen Briefe durchkorrigiert zurückgeschickt. Er ist Architekt, Dr.-Ing., Regierungsbaumeister a. D. — und vor allen Dingen ein kluger, belesener, stattlicher und ritterlicher Mann. Dodo hat die leise Hoffnung, dass Onkel August über kurz oder lang sie bei sich aufnehmen wird in Santiago. Wer weiss, wie bunt und reich sich dann ihr Leben gestalten wird! Ach, Spanien! Sie hat das Land geliebt, noch bevor sie’s kannte. Sie ist auf dieser Reise keine Stunde lang enttäuscht gewesen. Wie ein seliger Traum hat das Küstenbild von Cadix auf sie gewirkt. Und dann gar die Wunderbauten von Sevilla, die Alhambra —!
Nun hält der „General San Pedro“ auf den Hafen von Vigo zu. Dort werden die Passagiere in aller Frühe ausgebootet und an Land gebracht. Zweiundvierzig Autos hat der Agent der Linie in der ganzen Provinz gechartert. Darin sollen die Reisenden die Fahrt über Santiago de Compostela bis nach Coruña zurücklegen. Das Schiff setzt inzwischen die Reise um Kap Finisterre fort und nimmt in Coruña die Passagiere kurz vor Mitternacht wieder an Bord.
Dodo wird also heute mittag in Santiago sein. Die ganze Reise hat sie sich auf die Begegnung mit Onkel August gefreut. Sie steht ja sonst so einsam in der Welt da. Auch die geldstolze Reisegesellschaft ist für die kleine Stütze des Reisemarschalls ziemlich unnahbar. Man wendet sich nur an sie, wenn man mit irgend etwas unzufrieden ist. Aber für Dodo bedeutet der heutige Tag der Gipfel des Reiseglücks. Sie hat es nun doch nicht für sich behalten können, dass sie in Santiago ihren Onkel August sehen wird. Und als der „General San Pedro“ in den Hafen von Vigo einläuft und die spanischen Barkassen das deutsche Schiff mit Böllerschüssen und Musik begrüssen — sie spielen die „Wacht am Rhein“, weil die Noten davon noch aus Vorkriegszeiten vorhanden sind —, da fragt man sie neckend, ob man diesen überaus herzlichen Empfang etwa der Fürsprache von ihrem Onkel August zu verdanken hätte.
*
Herr von Glüher ist über die Böllerschüsse, namentlich aber über die „Wacht am Rhein“, geradezu entsetzt. Er befindet sich schon im Landanzug mit Melonenhut und hellgelben Handschuhen und hält auf der Kommandobrücke, wo der Kapitän mit dem vor einer Stunde an Bord gekommenen Lotsen spricht, Ausschau nach dem Pier. Richtig, dort stehen ein paar Männer in Zylinder und Gehrock, goldene Ketten auf der Brust. Ist es der Alcalde von Vigo, ist es die Hafenbehörde? Herr von Glüher eilt mit unsicheren Knien die Treppe hinunter aufs Promenadendeck, auf dessen Steuerbordseite sich alle 149 Passagiere, mit Kodak und Fernglas ausgerüstet, versammelt haben.
„Das ist ja ein Kamel mit Eichenlaub!“ fährt er seine kleine Sekretärin an. „Wenn die Auslandspresse das aufnimmt! Die ‚Macht am Rhein‘! Nichts Unpassenderes kann uns hier passieren! Was fällt dem Manne bloss ein? Was haben Sie ihm denn nur geschrieben?“
„Onkel August?“ fragte Dodo völlig verwirrt.
„Wie kommen Sie —?— Eine Staatskarosse am Pier, also offizielle Begrüssung! Grauenvoll! — Kann Hemberger Ihren letzten Brief denn so katastrophal missverstanden haben?“
„Hemberger, ach so, der Agent aus Coruña!“ Dodo atmet erleichtert auf. „Ich hab’ alle Telegramme dem Zahlmeister gegeben. Soll ich sie holen?“
„Jetzt nimmt das Unheil schon seinen Lauf. — Bum, bum! Ich könnte den Mann skalpieren!“
„Aber es ist doch so feierlich, Herr von Glüher! Und wundervoll ausgeschmückt sind die Boote! Nein, die Blumen und die Girlanden!“
Die ersten „Viva Alemania!“ dringen zwischen dem Salut und der Musik übers Wasser. Die Herren an Deck des „General San Pedro“ lüften die Hüte, die Damen winken.
Nun kann sich auch Dodo nicht mehr beherrschen. Jubelnd, zugleich tief gerührt von der Festlichkeit des Augenblicks, schwingt sich ihr zärtlicher Alt zu einem pompösen „Viva España!“ auf. Alle Passagiere wenden sich nach ihr um und stimmen ein. Der Kapitän und sämtliche Offiziere salutieren.
„Der Lotse sagt, es sei der Bürgermeister, der Herr da drüben mit dem ergreifend hohen Zylinder. Die Stadt will die erste deutsche Reisegesellschaft begrüssen, die nach dem Krieg hier spanischen Boden betritt. Fräulein Hartmann, rennen Sie mir bloss nicht davon. Sie müssen dolmetschen ... Nein, die Verteilung der Wagen ist jetzt Nebensache. Inzwischen müssen unsere Herrschaften doch auch gelernt haben, ohne Kinderfräulein ihr Stühlchen zu finden.“
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