Ein Brief von ihm bedeutet eine ganze Woche Glück. Sie antwortet ihm ja postwendend. Und er fühlt, scheint’s, die Verpflichtung, sie stets auf dem laufenden zu halten, jetzt, wo Onkel Augusts Befinden doch immer mehr zu wünschen übrig lässt.
... Aber dann kommt das Telegramm: die Trauerbotschaft. Und ein ganz kurzer, ernster Brief, der die letzten Stunden schildert, später ein ausführlicherer, der von den Verabredungen mit dem Notar und andern geschäftlichen Dingen handelt.
Von da an wartet sie ungeduldig auf jede Post.
Was plant er selbst? Wird er in Santiago bleiben? Hat Onkel August noch ausführlich mit ihm über die Zukunft gesprochen?
Die Aufstellung des Notars über das Erbe, das sie zu erwarten hat, macht sie recht mutlos. Sie hatte so ganz heimlich schon kühne Pläne erwogen. Sie selbst braucht Onkels Hinterlassenschaft nicht, sie kommt schon längst ohne Zuschuss aus. Wie wär’s, wenn Percy das Geld, das der Notar anweisen wird, von ihr geliehen nähme, um sein Studium zu beenden? Ohne Zinsen — nur so.
Oh, sie fürchtet fast dm harten Blitz, der da aus seinen plötzlich weit geöffneten Augen schiessen könnte. Denn er ist unberechenbar. Und beleidigen will sie ihn doch wahrhaftig nicht.
Aber es lohnt ja gar nicht, sich darüber Sorgen zu machen: was sie von ihrem armen Onkel August erben wird, das ist so geringfügig, dass es Percy bei dem teuren Studium für kaum anderthalb Jahre über Wasser halten könnte.
Endlich eine neue Nachricht. Die liegt in ihrer Stube auf dem Mitteltisch neben dem Gedeck mit ihrem Abendbrot, den beiden Rundstücken, den drei Kügelchen Butter, den beiden Sardinen, der Tomate und der Apfelsine. Es ist nur eine Postkarte, aufgegeben in Vigo. „An Bord des Achthunderttonnendampferchens ‚Melusine‘. Wir nehmen noch Weinladung und Kohlen ein, am Donnerstag geht’s um Kap Finisterre herum in die Biskaya. Von Kuxhaven aus komme ich nach Hamburg. Ich habe sechs Wochen Zeit, mir Arbeit zu suchen; also sag’ ich Ihnen gleich in der ersten halben Stunde in Hamburg guten Tag. Wenigstens rufe ich einmal auf der Reederei an, um Ihre Altstimme wieder zu hören. Viel Schweres liegt vor mir. Aber noch Schwereres hinter mir. Ich drücke Ihnen in Freundschaft die Hand. A. H., genannt Percy.“
Das sind nun Zeiten! Was kann Dodo tun, um die Wartefrist abzukürzen? Den Kolleginnen auch nur ein Wörtchen verraten? Unmöglich. Das käme ihr vor wie eine Entweihung. Einmal begegnet ihr Herr von Glüher. Er hält sie an, fasst ihre Hand, pätschelt sie väterlich und sagt, wie stets, ohne die Zigarre aus dem Mundwinkel zu nehmen: „Buenos días, Señorita.“ Ihre Augen funkeln ja. Fast wie die der Carmencita in Sevilla. Wissen Sie noch, im Varieté? Ach nein, das war damals nur für die unsoliden Herren der Schöpfung reserviert. Und war dabei so harmlos, wirklich. Wir machen einen San-Pedro-Abend. Da sollen Sie auch eine Einladung haben. Halten Sie sich den Sonnabend frei. Abgemacht?“ Sie hat ausgerechnet: Der Frachtdampfer wird Freitagnacht mit der Flut hereinkommen. Also wird sie sich den Sonnabend lieber nicht freihalten für das San-Pedro-Fest. Wie darf sie Herrn von Glüher aber einen Korb geben? Jede Verabredung sonst ist doch hinfällig einer solchen Auszeichnung gegenüber. Selbst jedes Theaterabonnementsbillett ... Sie ringt mit sich, es will ihr tief aus dem Herzen heraus: „Armin Hartmann kommt, Sie wissen doch noch, Herr von Glüher, Percy Hartmann, der mich damals in Santiago zu meinem Onkel August abholen kam ..“ „Na, Sie können sich’s ja überlegen, ich weiss selbst noch nicht, ob Platz sein wird diesmal, der enge kleine Saal, na, dann ein andermal, Fräulein Hartmann!“ Er tippt an den Hutrand und geht weiter. Dodo fühlt: er ist ungehalten über ihr Zögern.
Sie studiert die Wetterberichte. Ein Tief naht vom Atlantischen Ozean, Sturmmeldungen von der spanischen und französischen Küste. Der „General San Pedro“ fasst sechstausend Tonnen, die „Melusine“ nur achthundert. Das wird ja ein tüchtiges Geschaukel geben. Aber Percy ist nicht so zimperlich wie verschiedene elegante und hochmütige Passagiere des grossen Luxusdampfers —!
Heute will die spanische Übersetzung des Protokolls über die Generalversammlung der Reederei, die sie als Nebenarbeit übernommen hat, gar nicht vorwärtsgehen. Dodo ist zerstreut. Sie denkt an den einsamen Kajütenpassagier auf dem Frachtschiffchen. Jetzt muss die „Melusine“ doch schon im Kanal schwimmen, wie? Sie blättert in der Zeitung nach dem Datum.
... Und da klammert sich ihr Blick plötzlich an eine Sperrdruckzeile mitten in einem Telegramm aus Berlin ... Da steht nämlich der Name: Architekt A. Hartmann, zurzeit Santiago.
Sie liest zweimal, dreimal. Die Preisrichter haben die Prüfung der 1187 Wettbewerbarbeiten, die für den Plan zur Erbauung des Volkspark-Stadions an der Havel gegenüber Pichelswerder eingelaufen sind, beendigt und soeben ihre Entscheidung verkündigt. Der erste Preis in Höhe von zwölftausend Goldmark ist dem bekannten Architekten Geh.-Rat Prof. Dr.-Ing. Nathusius, Darmstadt, zuerkannt worden; sein Plan ist sehr grosszügig und sieht eine völlige Neugestaltung des östlichen Ufers vor. Den zweiten Preis in Höhe von sechstausend Mark hat ein allerseits unbekannter Architekt namens A. Hartmann, zurzeit Santiago, erhalten. In den dritten Preis von dreitausend Mark müssen sich zwei Bewerber, da auf sie die gleiche Stimmenzahl entfiel, teilen: Reg.-Baumeister Krumme, Berlin, und Dipl.-Ing. Prof. Leyser, Hannover. Lobende Erwähnung haben ausserdem siebenundzwanzig Arbeiten erhalten. Das Kuratorium wird in der nächsten Sitzung Beschluss über die Ausführung des an erster Stelle preisgekrönten Planes fassen; das Werk soll beschleunigt in Angriff genommen werden, um das Volkspark-Stadion bereits im übernächsten Sommer, wenn nicht schon im Frühjahr, der Öffentlichkeit zu übergeben. Man hofft auf äusserstes Entgegenkommen von seiten der Staats- und städtischen Behörden, weil ein grosser Teil der zu vergebenden Arbeiten ihrem Charakter nach als Notstandsarbeiten gelten kann und so geeignet ist, die mächtig angewachsene Ziffer der Erwerbslosen wesentlich herabzudrücken.
Dodo schiebt die Übersetzung beiseite, holt aus dem Kleiderschrank ihre Lederkappe und den englischen Regenmantel — denn es ist hässliches Aprilwetter, Regen mit Graupeln gemischt —, sie läuft auf die Strasse und überlegt sich erst hier, was sie eigentlich will. Noch eine Zeitung kaufen! Noch ein paar Zeitungen kaufen! Sie muss doch Genaueres erfahren. So schüchtern sie sonst ist: heute wagt sie sich ins Alster-Café und setzt sich in die Nähe des Zeitungstisches. Einen wahren Kampf hat sie auszufechten mit einer Art Zeitungstiger, einem kahlköpfigen, lederfarbenen, kurzsichtigen Manne, der die noch ungelesenen Zeitungen auf dem leeren Stuhl neben sich aufhäuft, ja er hat die Zeitungshalter sogar zum Teil unter seinen Sitz geschoben. Stück für Stück muss sie die Freigabe erbetteln. Der unangenehme Patron lässt dabei etwas fallen wie: „Aha, Heiratsannoncen!“
Der Bericht über die Entscheidung des Preisrichterkollegiums ist in allen Blättern gleichlautend.
„Um fünf Uhr früh kommen die Morgenausgaben aus der Druckerei, die Berliner kommen dann mit dem Flugzeug“, unterrichtet sie hernach der Zeitungskellner.
Für den Sonnabend hat sie nun also diese Riesenüberraschung für Percy!
Über ein Dutzend Zeitungsausschnitte hat sie im Verlauf der letzten beiden Tage gesammelt und aufgeklebt. In jeder einzelnen Notiz ist von ihr der Name A. Hartmann, zurzeit Santiago, rot unterstrichen.
Ach, wenn doch nur das schreckliche Graupelwetter aufhörte! Wie soll so ein armer kleiner Achthunderttonnendampfer bei dieser Unsichtigkeit ohne Unfall durch die graue Nordsee nach Kuxhaven finden!
*
Aber endlich ist er da. Freilich nicht Sonnabend, sondern Sonntag.
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