Die Rúa del Villar ist erfüllt von der Totenklage. Unter den Arkaden pflanzt sich das Geschrei widerhallend durchs ganze Stadtviertel fort.
Es gibt ein grossartiges Begräbnis. Francisco Rioja trägt die Kosten. Leichenbegängnisse sind vornehme Repräsentationsgelegenheiten hier, und der Schwager lässt sich nicht lumpen.
Nach der Beisetzung tut der reiche Bauunternehmer noch ein übriges. Er begibt sich ins Trauerhaus zurück und sucht den jungen Deutschen auf, den Freund seines verstorbenen Schwagers.
„Sie sind um zehn Jahre jünger als Augusto, mein Lieber, aber ich will Ihnen trotzdem mein Angebot machen. Sie können die Arbeit von Augusto übernehmen. Natürlich kann ich Ihnen noch nicht seine grossen Revenuen zahlen. Aber harren Sie aus, dann wird es zu Ihrem Besten fein. Mehr darf ich heute nicht verraten.“
Percy hält sich völlig im Zaum. Nun wäre die Gelegenheit da, nach der er sich jahrelang gesehnt hat. Einmal, ein einziges Mal dem aufgeblasenen Protz von Prinzipal die Wahrheit ins Gesicht zu schleudern ... Aber er bleibt äusserlich ganz spanischer Grande. „Sehr freundlich, Señor Rioja, Ihr Anerbieten. Aber ich kann es nicht annehmen, so gut es gemeint sein mag. Ich kehre in meine Heimat zurück.“
„Nach Alemania? Was wollen Sie da? Man hat dort kein Geld, um zu bauen. Sie werden keine Stellung finden.“
„Die suche ich auch vorläufig nicht. Ich setze mich in Deutschland wieder auf die Schulbank. Ja, sehen Sie, Männer, die so wenig können wie Sie und ich, Señor Rioja, die müssen noch sehr viel studieren, bis sie höheren Ansprüchen genügen.“
Der Bauunternehmer sieht ihn eine ganze Weile starr und stumm an. Endlich hat er die Malice begriffen. „Sie werden Ihren Leichtsinn noch schwer bereuen, mein Lieber“, sagt er und verlässt zornig das Trauerhaus.
Mit dem Notar ist die Regelung der Hinterlassenschaft Augusts aufs peinlichste vorbereitet. Viel wird Dodo, seine Erbin, nicht ausbezahlt bekommen, wenn die beiden kleinen Landgütchen endlich einen Käufer gefunden haben werden. Der Notar meint, man dürfe den Verkauf keinesfalls überhasten.
Armins Barschaft ist kleiner als sein Mut. Sein Geld reicht nur dazu, dass er die Fahrt nach Hamburg auf einem kleinen Frachtdampfer zurücklegen kann. Aber sein Mut reicht aus, um die Welt zu erobern.
Er weiss, er wird in Hamburg Dodo wiedersehen!
*
Wenn Dodo zu ihrer spanischen Lehrerin kommt, zweimal wöchentlich nach Kontorschluss, um Konversation zu üben, dann ist das ein farbiges Wiederaufleben der ganzen wunderschönen Reise. Die hier in Hamburg übermässig frierende Spanierin, die sich in ihren alten Seidenschal wickelt und mit den Händen über die mageren Oberarme streicht, um sie zu erwärmen, wird oft von Dodos feuriger Begeisterung für ihre Heimat mit ergriffen. Freilich: sie selbst kennt ja nichts von all den Herrlichkeiten, von denen ihre junge Schülerin ihr vorschwärmt. Sie ist die Tochter eines Küfermeisters aus Barcelona, eine dumme Liebesgeschichte hat sie nach Hamburg geführt. Das ist die einzige Reise ihres Lebens geblieben. Von den Männern will die frierende Spanierin seitdem nichts wissen.
Aber in Dodos Schilderungen kommt immer ein junger Mann vor. Dabei ist doch festgestellt, dass Dodo diesen jungen Mann erst ganz zum Schluss ihrer grossen Spanienfahrt kennengelernt hat. Die Lehrerin möchte immer wieder Ordnung in den historischen Verlauf der Geschehnisse bringen. Jetzt haben wir Orotava verlassen, besteigen den „General San Pedro“ wieder, geraten in die starke Dünung an der afrikanischen Küste und fahren dann bei herrlichem Wetter in den Hafen von Cadiz ein ... Wir sind doch noch lange nicht wieder in Santiago ... Die ältliche Spanierin beginnt schon ganz nervös zu werden und fängt wahrhaftig wieder an zu frieren. Übrigens vernachlässigt die junge Señorita auffallend die Gaumensprache des j, sobald sie sich in diese allzu oft erwähnte Besteigung des Glockenturms von Santiago verliert.
Einmal zeigt sich im Kontor die Dame, die die teure Luxuskabine B auf dem Bootsdeck innegehabt hat, erkennt die Stütze des Reisemarschalls und spricht mit ihr gnädig ein paar Worte über die Fahrt. Und da gerät die kleine Dodo auch sogleich wieder ins Schwärmen. „Ach, es war doch ein überwältigendes Erlebnis!“ sagt sie, und in ihren grossen, samtbraunen Augen schimmert es feucht. Ganz verdutzt mustert die Hamburgerin das kleine Kontorfräulein und sagt durch die Nase: „Tjo, ich weiss jä nich, was für’n überwältigendes Erlebnis Sie da unterwegens gehabt haben mögen, Fräulein, ich weiss nur, dass ich noch auf keiner Reise, aber auch auf keiner einzigen Reise, so bannig viel Unbequemlichkeiten und Unannehmlichkeiten hab’ in Kauf nehmen müssen für mein gutes Geld!“
Die Kolleginnen, die Fräulein Hartmann die Bevorzugung durch Herrn von Glüher noch durchaus nicht vergeben haben, fangen an zu kichern.
Dodo sieht sich verwirrt um, sagt noch etwas von dem Neuen und Grossen in der Natur, in der Kunst, und von den architektonischen Eindrücken besonders, aber die Dame aus der Luxuskabine B hört kaum mehr hin.
Es ist Dodos altes Schicksal: sie ist immer einsam, sie hat niemand, dem sie sich anvertrauen kann, der ihr auch nur zuhört. Im Landerziehungsheim galten bloss die Wilden etwas, die nachts aus dem Schlafsaal ausbrachen und Tollheiten anstellten. Vor ihr hüteten sie ihre Geheimnisse, die andern, denn sie hielten sie für ein Musterexemplar, sie fürchteten wohl gar, dass sie Angeberei triebe, weil sie niemals Strafe zudiktiert bekam. Sie wartete mit Ungeduld auf die Ferien, um nach Hause zu kommen, sie umgab ihren Vater mit einem romantischen Schimmer, hoffte von einem zum andern Mal immer stärker darauf, dass er sie nicht mehr als Kind, sondern als seine Freundin behandeln würde — sie hatte ihm ja soviel Seelisches zu sagen. Aber er war ein vielbeschäftigter Arzt, fand kaum Zeit für sich selber, geschweige denn für seine kleine Tochter ... Und dann spielte ja auch in den beiden Jahren vor dem Krieg die Sache mit Frau von T., die sich von ihrem Gatten scheiden lassen wollte; in den Sommerferien machten die beiden gefährliche Hochtouren, auf die sie nicht mitgenommen wurde ... Dann fiel der Vater in Russland, als Oberstabsarzt d. R., nähere Verwandte, die ihr ein Heim geboten hätten, waren nicht da, von dem Verkauf der Hinterlassenschaft wurde ihre weitere Pension im Landerziehungsheim bestritten, sie musste sich von der Selekta aus für einen praktischen Beruf vorbilden. Wo immer das Schicksal sie hinwarf, nirgends konnte sie festen Fuss fassen, die Menschen übersahen sie, und sie hätte doch so gern mit diesem oder jenem, mit dieser oder jener über innere Erlebnisse gesprochen. Was ihre Kolleginnen zu ihr sprachen, das konnte ebensogut ungesagt bleiben. Niemals wollten sie sich richtig über ein Buch äussern, das sie gelesen, ein Theaterstück, das sie gesehen. Nein, das war ihnen zu langweilig. Mit einer Geschlechtsgenossin konnten sie überhaupt nur über Kleider und über das eine einzige reden: den Flirt, den sie gerne hatten. Nun, der Flirt spielte keine Rolle in Dodos Mädchenzeit. Sie hatte ihre Hamburger Abende mit eiserner Konsequenz für das spanische Studium aufgespart. Der Lohn war ja nicht ausgeblieben. Aber es schien, als ob die Kolleginnen es ihr absichtlich unmöglich machten, ihnen irgend etwas von der Reise zu erzählen. Und es sprengte ihr jetzt fast die Brust. Die Briefe, die sie aus Santiago bekam, setzten das Märchenglück fort. Onkel August war niemals ein fleissiger Briefschreiber gewesen, er hatte sich also gern damit einverstanden gezeigt, dass Percy die Fäden, die sich in der Rúa del Villar angesponnen hatten, weiterspann. Es waren Briefe, wie Percy sie eben schreiben musste, so und nicht anders, einmal fein, besinnlich, dann plötzlich wie gepeitscht, jeder Satz ein Aufschrei, darauf wieder herzlich und werbend, und ein aufrichtiger Mensch mit ringender Seele sprach daraus. Jedenfalls eine genial veranlagte Natur. Was er ihr noch über Einzelheiten der Kathedrale schrieb, war so wundervoll erfasst, dass es sie wieder mitten in das künstlerische Erlebnis zurückversetzte. Kein einziges von den gelehrten Büchern, die sie über diese Kunstdinge gelesen, hat so unmittelbar zu ihr gesprochen.
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