Sie kniet neben ihm am Tisch, noch in Lederkappe und Regenmantel, wie sie eben von der Strasse hereingesprungen ist, um ihm rasch guten Abend zu sagen.
„Aber wie siehst du denn aus, Dodo?“ ruft er in plötzlichem Schreck.
Sie hat einen kleinen blutenden Riss an der Wange, ihre ganze linke Seite ist patschnass und beschmutzt.
„Du bist draussen hingefallen?“
„Ich wollte dir doch bloss durch den Türspalt einen Gruss zurufen. Nun siehst du mich in so einer wüsten Verfassung. Rasch ins Badezimmer. Und der Mantel kommt gleich in den Waschzuber.“ Sie ist lachend wieder aufgesprungen.
Er eilt hinter ihr drein. „Aber du bist verwundet, Dodo. Um Gottes willen, du warst in Gefahr? Doch nicht etwa überfahren?“
Sie lacht noch immer, aber verstellen kann sie sich ja nicht, er merkt also, dass sie irgendeinen grossen Schrecken durchgemacht hat. Er folgt ihr bis in die Tür vom Badezimmer. Frau Skull tut abends Dienst als Garderobenfrau im Thaliatheater, aber das Mädchen springt sofort aus der Küche herbei und nimmt der Chambregarnistin die nassen Sachen ab.
„Jetzt musst du aber aus der Tür, Percy. Minna, kommen Sie rasch mal herein. Ich sag dir hernach alles, Percy ... Also da war so ein Taperfritze, ein kurzsichtiger Mann, der blieb mitten beim Übergang an den Grossen Bleichen im tollsten Verkehr stehen, um sein Pincenez auf dem Asphalt zu suchen. Von rechts kommt ein Lastwagen, der Schutzmann ruft ihn an, hinter dem Lastwagen ein Motorradfahrer, der überholen will, von links eine ganze Reihe Autos. Alles schreit auf. Da flitze ich über die Strasse und gebe dem Mann einen Stoss, auf dem nassen Damm geht es wie gehext, wir rutschen beide und schlagen beide hin, und der Motorradfahrer rammt den Taperfritzen noch gerade mit dem Kotflügel an der Schulter. Jetzt mit einemmal stand alles. Und man schimpfte natürlich in allen Tonarten. Die Leute helfen uns auf die Beine. Der Schutzmann zieht gleich sein Notizbuch. Der Mann müsse Strafe zahlen, sagen die Leute. Es fehlt nur noch, dass auch ich ein Strafmandat erhalte. Ich weiss selbst nicht, wie ich dazu gekommen bin, mich so einzumischen. Aber nur eine halbe Sekunde — und der Mann wäre unter die Räder des Lastautos geraten!“
„Du nichtsnutzige Lebensretterin, du!“ Jedesmal, wenn Minna die Tür öffnet und mit einem weiteren Stück von Dodos durchweichter Garderobe herauskommt, bleibt ein kleiner Spalt offen.
Nun wird drinnen die Dusche gezogen.
„Ich habe — solches Herzklopfen!“ versichert er und lehnt sich wie erschöpft an die Korridorwand.
Unter der Brause lacht sie hell auf. Plötzlich gewahrt sie den Türspalt. „Aber das ist ja ... Um Himmels willen, wenn Frau Skull ...“ Die Brause klatscht in die Wanne, nackte Füsse eilen unsicher über die Kacheln, rasch schliesst sich der Türspalt.
Percy kehrt in sein Zimmer zurück. Da sieht man noch am Tisch die Spuren von Dodos nassem Regenmantel. Er setzt sich in den Lehnstuhl am Fenster, ringt nach Atem und muss schlucken, weil ihm die Kehle ganz trocken geworden ist.
Endlich steckt Dodo in ihrem Kimono und huscht an seiner Tür vorbei. Er hört ihre leichten Schritte.
Auf den Fussspitzen folgt er ihr in ihr Zimmer. „Böse?“ fragt er schüchtern.
Sie steht vor dem Spiegel und bürstet ihr Haar. Stumm schüttelt sie den Kopf.
„Blutet die Wunde noch?“
„Ach, es ist nur eine Schramme.“
„Zeig!“ Er umfasst und küsst sie. „Mädel — um einen fremden Menschen sich so in Gefahr zu stürzen! Wenn du nun statt seiner unter die Räder gekommen wärst!“
„Lass nun gut sein. Ich lebe. Und ich freue mich, dass ich lebe.“
„Heut feiern wir ein hohes Fest, Dodo. Unser Lebensfest.“
Sie umarmt ihn, hüllt ihn ganz ein mit ihren weiten Kimonoärmeln. Er fühlt ihre samtweiche, kühle Haut, die sich rasch erwärmt.
*
Am andern Tag wird Percy auf dem Hauptpostamt ein Einschreibebrief ausgehändigt, der ihm über Santiago hierher gefolgt ist: die Nachricht des Preisrichterkollegiums, dass der Arbeit mit dem Motto „Gott Pan“ der zweite Preis in Höhe von sechstausend Goldmark zuerkannt worden sei. Den Glückwünschen sind nur noch ein paar geschäftliche Mitteilungen beigefügt. Der Geldbetrag wird ihm durch die Deutsche Bank übermittelt, sobald er die architektonischen Pläne, wie dies im Ausschreiben zur Bedingung gemacht ist, im Verhältnis 1 : 100 nachgeliefert hat; für die gartenarchitektonischen Anlagen genügen die Pläne 1 : 500, die dem Kollegium bereits vorliegen.
Er wird sich sofort das erforderliche Zeichenpapier verschaffen und mit der Arbeit beginnen. „In vier, fünf Tagen bin ich fertig, kleine Dodo!“
Aber er arbeitet nicht nur die Tage, sondern auch die halben Nächte hindurch.
Weit nach Mitternacht — Frau Skull ist längst aus dem Thaliatheater heimgekommen, alle Pensionäre liegen schon zu Bett — schleicht sich Dodo einmal in sein Zimmer. Sie hat es vor Sehnsucht nicht ausgehalten in dieser Einsamkeit, getrennt von ihm durch mehrere Mauern.
„Nur einen leisen Kuss — ganz heimlich!“ flüstert sie.
Er nimmt sie auf seinen Schoss und drückt sie zärtlich an sich. Aber das Winkelmass und den Zeichenstift hat er nicht aus der Hand gelassen.
Sie lächelt über seinen Rieseneifer, will ihn aber nicht stören.
Unhörbar öffnet sie die Tür wieder, nickt ihm noch ein stummes „Gute Nacht!“ zu und tastet sich in ihr Zimmer zurück.
Ihr Glück ist ihr selbst noch ganz unfassbar. Aber sie geniesst es, ohne auch nur eine Sekunde an die Zukunft zu denken.
Doch merkt sie in ihrem überschwenglichen Glück gar nicht, dass sie bei Herrn von Glüher nun wirklich tief in Ungnade gefallen ist — und dass ihre Kolleginnen sich einstimmig darüber freuen.
Einmal kommt der Botenmeister ins Kontor und spricht mit ihr. Sie solle sich sogleich ins Besuchszimmer begeben, fangen die andern auf. Vielleicht gibt es schon jetzt eine kleine Katastrophe?
Auch Dodo ist im ersten Augenblick ein bisschen erschrocken. Aber was kann denn weiter sein? Sie wirft einen Blick in den Spiegel, streift die Überärmel rasch herunter und folgt dem Botenmeister.
Im Besuchszimmer mit den mächtigen Klubsesseln, den beiden Marmortischen und den zahlreichen Aschbechern sitzt ein Herr mit lederfarbenem Gesicht, schräg aufgesetztem goldenen Kneifer und mächtiger Glatze. Er hat helle Gamaschen über den auf Rand genähten Promenadenstiefeln und steckt in einem eleganten Masspaletot. Hut und Handschuhe liegen auf dem Stuhl neben ihm, den Ebenholzstock mit der goldenen Krücke dreht er zwischen den Fingern.
„Das ist der Mann, dem ich am Eck der Grossen Bleichen den Schubs gegeben habe!“ ist Dodos erste Feststellung. Ihre zweite: „Es ist auch der Zeitungstiger von neulich aus dem Alsterpavillon!“
„Mein Name ist Erb. Doch der tut hier nichts zur Sache. Ich komme, um mich bei Ihnen zu bedanken, Fräulein.“
„Ja, woher wissen Sie denn —?“
„Ich habe für meine Unvorsichtigkeit Polizeistrafe zahlen müssen. Lassen wir dahingestellt, ob die Erhebung zu Recht besteht. Ich bin sehr kurzsichtig, ohne Kneifer hilflos. Aber ich will mich hier in Deutschland nicht mehr herumzanken. Ich fahre nach Südafrika, komme nach Europa kaum wieder zurück. Nun haben der Schutzmann, der Lastwagenführer und der Motorradfahrer, die nach der Unfallstation mitgekommen sind, übereinstimmend bestätigt, dass nur Ihre Geistesgegenwart mich — nun, mindestens vor einem grösseren Unfall bewahrt hat.“
„Sie sind aber doch verletzt worden?“
„Ich trage die Schulter noch bandagiert. Es ist nicht schlimm. Aber Sie haben dabei Ihre Kleider verdorben, liebes Fräulein. Ich möchte Ihnen nicht nur für Ihre Hilfe danken, sondern Ihnen auch Schadenersatz leisten.“
„Die Schäden waren rasch repariert, Herr Erb. Badewanne und Waschzuber haben ausgereicht, Kosten sind nicht entstanden.“
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