1 ...7 8 9 11 12 13 ...17 „Sehen Sie, mein Freund, in dem Augenblick, in dem sich ergibt, dass die Naturalisierung bei Kriegsausbruch noch nicht ausgesprochen war, in dem Augenblick verliert auch Madame Martin den Anspruch darauf, als Französin gelten zu können.“
Helene hatte sich aus der lustigen Gruppe halb losgelöst. „Herr Ducat,“ sagte sie, schon wieder von innerlichem Zittern erfasst, „Sie würden mich am Ende also gar — ausliefern wollen?“
„Es ist ja bloss akademisch gesprochen. Aber falls sich ergeben sollte, dass Sie Deutsche sind, — ja, mein Gott, dann wäre es doch für uns unmöglich, weiter mit Ihnen zu verkehren.“
„Wäre ich denn dann ein anderer Mensch? Bin und bleibe ich nicht die, als die Sie mich alle kennen? Manon, Geneviève — helft mir doch!“
„Ach, Süsse,“ rief Manon und nahm sie um den Hals, „lass dir doch von Pa keine Furcht machen!“
„Im einzelnen Falle wird einem Menschen von feinerem Empfinden manches hart ankommen. Aber es gibt Pflichten gegen Frankreich,“ sagte Herr Léon Ducat mit ernstem Nachdruck, „die niemand leicht nehmen sollte.“
„Pa, du übertreibst immer gleich alles so furchtbar.“
„Ich habe Herrn Laroche nur erklärt, weshalb ich es für empfehlenswert halte, die Herbeiführung der Sicherheit nicht zu beschleunigen.“
„Aber ich leide unter dieser Unsicherheit!“ rief Helene. Die Tränen traten ihr in die Augen.
„Léon, ist es die Möglichkeit?“ warf der Major ein. „Du kannst einer Bitte aus diesen himmlischen Augen, aus diesem zum Kuss geschaffenen Munde widerstehen? Ja, bist du denn von Stein, Vetter?“
Der Notar hob die Achsel. „Gut, gut. Ich werde also morgen mit dem Präfekten sprechen, ihn bitten, das betreffende Ressort anzuweisen, dass es mir einen Beamten zur Verfügung stellt, um die Akten ausfindig zu machen.“
„Warum nicht heute?“ bat Geneviève. „Lieber Herr Ducat, unsere Helene schläft dann vielleicht schon besser.“
Ein kurzes Schweigen. Ducat strich seinen Bart. „Vielleicht aber auch — nicht mehr bei Ihnen,“ sagte er halblaut.
„Wieso nicht mehr bei uns?“
„Alle Angehörigen des feindlichen Auslands, die jetzt noch in Frankreich weilen, müssen in den Konzentrationslagern untergebracht werden. Ausnahmen gibt es da nicht.“
„Und Sie meinen — Helene —?“
Er machte eine bedauernde Bewegung.
Geneviève fasste Manon unter den Arm. „So. Also das sage ich dir, Manon: deinem Papa kündige ich hiermit die Freundschaft.“
Der Major fand die ganze Auseinandersetzung peinlich und überflüssig. Aber er stellte fest, dass Helene die Tränen reizend standen. Leise sagte er zu Geneviève: „Wir wollen uns drücken. Vetter Léon hat heute wieder seinen Prinzipienteufel in sich. Dann ist er ungeniessbar. Ich begleite Sie. Ja, wollen Sie mich mitnehmen?“
„Es dunkelt schon, Ducat, da darf man sich nicht mehr an Ihrer Seite zeigen.“
„Habe ich einen so schlechten Ruf hier?“
„Sie nicht. Nur die Damen, mit denen Sie gehen.“
„O, wie boshaft ... Aber, Fräulein Geneviève, glauben Sie denn, ich würde nicht viel lieber immer mit Ihnen gehen als mit Fifi oder Lou oder Laurette?“
Geneviève lachte. „Wenn nur das zeitraubende Heiraten nicht dazu gehörte!“
Sie entschieden sich alle fast im selben Augenblick zum Aufbruch. Manon war sehr betrübt. Sie bestand darauf, dass André rasch noch einen seiner Kuchen ass, bevor er ging. Seufzend sah sie die Gäste scheiden. Wenn wenigstens eins von ihnen zu Tisch geblieben wäre. Sie langweilte sich über die Massen in der Gesellschaft ihres Vaters.
Noch in der Marmorhalle draussen trieb André seine Spässe. Er zeigte den Damen einen neuen Tango. Helene, die in all diesen internationalen Künsten erfahren war, sollte durchaus seine Partnerin sein. Aber sie lehnte lebhaft ab; sie kannte die Art des Majors zu tanzen nur zu gut. Manon rief übermütig hinunter: „Wenn Sie zu Tisch bleiben, André, dürfen Sie mir ihn hernach beibringen.“
„Ich möchte mich zerreissen,“ sagte der Major. „Zu Tisch muss ich ins Kasino — und hernach ...“
„Wir wollen gar nicht hören, wo Sie hernach sein werden!“ schnitt ihm Geneviève das Wort ab. Sie hielt sich die Ohren zu.
Lachend gelangten sie auf die Strasse.
Sie waren noch nicht bis zum Boulevard de la Liberté gelangt, als André seinen Schatten gewahrte: Ebenezer Drachmen stand neben dem Eingang zum Café an der Ecke. Er war immer gerade da, wo der Major ihn brauchte. Das war kein grosses Wunder, denn Drachmen lebte nur dafür, sich für seinen Chef in Bereitschaft zu halten. Es kam ihm gar nicht darauf an, ein paar Stunden unnütz irgendwo zu warten. Hatte Ducat keine Verwendung für ihn — nun, so trollte er sich wieder.
Jetzt rief ihn der Major mit seinem leisen Spitzbubenpfiff an. Sofort war Ebenezer Drachman an seiner Seite. Helene hörte ihren Namen nennen. Sie sah die flinken beiden Augenpaare, die weissen Zähne, die fabelhaft raschen Lippenbewegungen der beiden Männer beim Sprechen. Verstehen konnte sie nichts. Der Unterleutnant trennte sich dann rasch. Flink bog er um die Ecke beim Kasino und schlug den kürzesten Weg zur Stadtmitte ein.
„Wenn einer was ausrichtet,“ sagte André, „dann ist es Ebenezer. Bis Vetter Léon mit seiner Schwerfälligkeit und seiner Prinzipienreiterei ins Rollen gelangt, ist der Krieg womöglich schon aus.“
Zu zwei und zwei folgten sie dem Unterleutnant, Geneviève neben dem Major, Helene neben Laroche. Helene legte im Weiterschreiten ihre Rechte leicht auf Laroches linke Hand. „Ich bin Ihnen so dankbar,“ sagte sie.
Das Stadtbild war wieder ruhiger geworden. Hier in dem abgelegenen Teil hinter dem Sommergarten hatte man wohl überhaupt nicht viel vom Kriegslärm gemerkt. Den hitzigeren Pulsschlag der Stadt gewahrte man jetzt nur vor den Zeitungsausgaben.
Durch die Abendstille hallten die Schritte der beiden Paare aus dem Pflaster. In das Schwadronieren des Majors mischte sich nur ganz von fern das Summen und Surren des Grossstadttreibens. Aber jäh zerriss plötzlich ein schriller Aufschrei das ungewisse Gesumme. Und es war, als ob sich Garben von lärmenden Hetzrufen daran schlössen.
Laroche blieb stehen. Er war von neulich gewarnt. Ob man es wagen sollte, mit den Damen jetzt noch die Rue Nationale zu kreuzen, fragte er den Major. Der lachte. „Aber bitte — die kleinen Frauen müssen sich nur ganz eng an uns anklammern, ganz, ganz eng!“
Das Geschrei war scheusslich. Eine schrille Frauenstimme, deren Weinen ins Kreischen überging. Und als anschwellender Unterton das Durcheinander einer hetzenden Volksmasse.
Jetzt drängte sich der Trupp, der ein paar Dutzend Köpfe zählen mochte, aus der nächsten Seitenstrasse auf die Place Jussieu.
„Sie haben eine Spionin!“ sagte der Major nach einem raschen Blick.
Der Trupp schwankte nach rechts und nach links. Die Frauensperson wollte sich anscheinend befreien. Sie zerrte die Männer, die sie an beiden Armen gefasst hielten, in verzweifelter Anstrengung hin und her.
Die beiden Paare mussten dicht an die Hauswand zurückweichen. Wild tobte der Trupp an ihnen vorbei. Die Gefangene war ohne Hut, ohne Jacke, ihre Sommerbluse war zerrissen.
Kreideweiss ward Helenes Gesicht, nur mit Mühe unterdrückte sie einen Aufschrei. Sie kannte die Unglückliche, die sie da vorbeischleppten. Es war eine junge Deutsche. Schneider hatte sie ihr einmal im Wandelgang des Theaters vorgestellt. Sie stammte aus Hannover und war hier als Erzieherin angestellt gewesen. Helene hatte sich um die junge Dame, die einem so ganz anderen Lebenskreis angehörte, nicht weiter kümmern können, die Reise war dann auch dazwischengekommen.
Der Major hatte sich einen der jüngeren Burschen aus der spektakelnden Begleiterschar herausgelangt und sich Bericht erstatten lassen. In einem Geschäft am Boulevard war das ‚freulain‘ an ihrer Aussprache als Deutsche erkannt worden. Sie hatte es abgestritten, sollte ihre Papiere zeigen, hatte versucht, zu entfliehen, der Ladenbesitzer war hinter ihr hergestürmt, andere schlossen sich an, — nun brachte man sie zur nächsten Wache.
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