„Ja, was soll ich tun, wenn zwei so schöne Augenpaare mich anbetteln?“
„Deine Augen sind viel schöner als unsere, Papa,“ sagte Geneviève. „Gelt, Helene, so oft hast du’s gesagt: wie es einem durchs Herz gehen kann, durch und durch, wenn Papa einen so ansieht.“
„O ihr Schmeichler.“ Fast etwas abwesend sagte er’s. Dann raffte er sich auf und ging zur Tür.
„Ist er nicht lieb?“ fragte Geneviève. „Geh’, Helene, nun hat er aber auch einen Kuss verdient.“
Helene sprang ihm nach und umarmte ihn.
„Hätten Sie Ducat den Kuss auch gegeben, wenn er bereit gewesen wäre, Ihnen zu helfen?“ forschte Laroche.
„O, Vater Ducat!“ Helene lachte. „Er hat einen Bart wie ein Fusssack. Überhaupt ... Wie er nur zu der entzückenden Manon kommt?“
„Vielleicht ist sie ihm allein gar nicht zu verdanken,“ sagte Laroche.
Selten nur sagte er so Leichtfertiges. Geneviève drohte ihm. „Wenn so was nun die Kinder hörten, Papa! Oder Mama!“
„Noch schlimmer, wenn es Ducat hörte!“ sagte Laroche.
Helene atmete auf. Laroche war gutgelaunt — er würde ihr helfen.
Es waren Tage voll beispielloser Erregung. Helene ward das Herzklopfen nicht mehr los. Sie wusste, dass nur die Aufnahme im Hause Laroche sie vor trübem Schicksal gerettet hatte. Fast stündlich brachten die Kinder oder die Mädchen oder Bekannte die wildesten Schreckensbotschaften ins Haus. Da waren in Wambrechies zwei junge Deutsche gefasst worden, die sich an den Eisenbahngleisen zu schaffen gemacht hatten, offenbar Spione. In Fives hatten drei deutsche Anarchisten Telegraphendrähte durchschnitten. Wo auf der Strasse Deutsche erkannt wurden, da fiel die aufgebrachte Menge über sie her. Einer hatte sich auf die Grand’ Place gewagt und unter die Menge gemischt, um die Nachrichten zu lesen, die an der Empfangshalle vom „Echo du Nord“ aushingen. Man hatte sich den jungen Burschen reihum gereicht. In jämmerlichem Zustand war er schliesslich durch die Markthalle seinen Verfolgern entschlüpft.
Eine bestimmte Nachricht darüber, ob der Fall Martin auf der Präfektur schon geklärt war, konnte Laroche nicht erhalten. Die Mobilisation nahm alle Kräfte der Bureaus in Anspruch. Es herrschte in den Schreibstuben aller öffentlichen Ämter eine heillose Verwirrung. Die Mehrzahl der eingearbeiteten Beamten hatte sofort die Feder hinlegen müssen, um zu der Truppe abzureisen. Laroche wäre schliesslich, Helene zuliebe, selbst nach Paris gefahern. Aber mehrere Tage hindurch gab es für Zivilpersonen überhaupt keinen Eisenbahnverkehr, und die Verbindungen waren fürchterlich, man brauchte bis Paris einen ganzen Tag, alle Hauptlinien waren durch Truppentransporte besetzt. Auch Briefe bekam man nicht. Mehrmals am Tage schickte Helene eins der Kinder nach dem Boulevard hinüber, um beim Pförtner, bei der Köchin Nachfrage zu halten. Es war für sie aber nichts angekommen. Wo mochte George stecken, der Ärmste?
Die Begegnung mit Drachman war auch nicht dazu angetan, sie zu trösten. Der Unterleutnant mochte ein tapferer Haudegen sein, ein Seelenkundiger war er nicht. Ebenezer Drachman hatte von der Pike auf gedient, er war nicht mehr jung. Seinem Major war er von alten Zeiten her blind ergeben. Es wurde davon erzählt, dass die beiden mancherlei Abenteuer gemeinsam erlebt hatten. Drachman war eine ins gewöhnliche geartete Ausgabe seines Chefs. Schwarz das Haar, schwarz der Schnurrbart, schwarz die funkelnden Augen. Guter Futterzustand, ein mächtiges, kerngesundes, weisses Gebiss, die Haut an Kinn und Wangen immer bläulich, auch schon beim Heraustreten aus dem Barbierladen. Bei André Ducat ging das alles ins lebemännisch Smarte. Aber was ihm allenthalben Erfolge eintrug, war gewiss auch das skrupellose Draufgängertum.
Helene gegenüber glaubte Drachman durch möglichst realistische Schilderung der Vorgänge beim Abtransport der Deutschen aus Paris sich ein Verdienst zu schaffen. Die Verzweiflung der eleganten Herren und Damen, die ihre Koffer selber schleppen mussten, hatte auf ihn den stärksten Eindruck gemacht. Tröstend meinte er: Herr Martin sei ja französischer Staatsangehöriger, also werde er bald freigelassen werden müssen, auch wenn er vorläufig wirklich in eins der Konzentrationslager der Normandie, der Bretagne oder der Pyrenäen verschleppt werden sollte.
Auf die Strasse wagte sich Helene nun doch nicht mehr. Auch nicht in die Fabrik oder zum Neubau. Übrigens stand ja an beiden Plätzen alle Arbeit still. Die Kriegserklärungen jagten einander, die ersten Nachrichten vom Kriegsschauplatz liefen ein, und es kam dann in der Stadt immer zu aufgeregten Szenen, von denen die Hausgenossen durch die Mädchen erfuhren, die es von der Haustür brachten. Die Botschaft von der Ermordung Jaurès’ ging verhältnismässig spurlos vorüber. Die Sozialistenpartei der Stadt hatte überall grosse Plakate angeschlagen: „Ruhe, Genossen, Ruhe!“ Die Seele der Stadt war jetzt die Zeitungsausgabe an der Grand’ Place. Hunderte, Tausende kamen da zusammen.
Von der russisch-deutschen Grenze brachte das „Echo“ die Kunde, dass die Deutschen mordend, sengend und brennend über das wehrlose russische Bauernvolk herfielen. In diesen Tagen kam die Bezeichnung „Barbaren“ für Helenens frühere Landsleute auf. Sie schämte sich da ihrer Abstammung. Sie ahnte ja nichts von der Kunst der Verleumdung, die die käufliche Presse so meisterhaft handhabte. Noch schlimmer waren die Meldungen aus Belgien. Manon Dedonker verging vor Sorge. Ihr Mann war nicht gekommen; er hatte in Belgien Zurückbleiben müssen, da er der Bürgergarde angehörte. Der Völkerrechtsbruch der Deutschen, ihr grausames Vorgehen gegen die Belgier wurde in allen Häusern voll Entrüstung besprochen. Helene konnte nichts als schweigen. Ost fragte sie sich, ob denn derlei Schandtaten möglich seien. In ihrem Herzen regte sich etwas, das dem widerstritt. Aber ihr Verstand sah die Beweise schwarz auf weiss gedruckt. Und sie stand — wie alle hier — unter dem Bann der Zeitung.
Da brachte Geneviève eines Vormittags die Nachricht: eben, als sie mit der Köchin aus der Markthalle trat, war sie dem Major Ducat begegnet, und der hatte ihr so wundervolle Dinge erzählt von der Stimmung an der Front ... Ein paar Leichtverwundete hatten da allerhand ergötzliche Geschichten mitgebracht ... „Ja, und denkt nur, das Regiment, das er führen soll, wird die Dreiundvierziger ablösen. Es kommt hierher, auf die Zitadelle! Manon weiss natürlich schon! Komm’, Helene, wir wollen sie gleich einmal anrufen!“
André Ducat war früher aktiver Offizier gewesen. Seine masslose Verschwendung, sein Leichtsinn im Spiel und in Liebesabenteuern hatten ihm eine grössere Laufbahn unmöglich gemacht. Fast fünf Jahre war er aus der Front gewesen. Wovon er damals in Paris gelebt hatte, wusste kein Mensch. Durch eine grosse Erbschaft, die ihm wie ein Wunder in den Schoss fiel, sah er sich dann plötzlich imstande, seine alten Schulden abzutragen. Dass er dies zu allererst auch wirklich tat, das ward ihm hoch angerechnet. Seitdem lebte er wieder in Saus und Braus und war der Liebling von aller Welt. Es war nur ein Territorialregiment, das man ihm jetzt übertragen hatte. Durch die lange Pause war er mit seinen vierundvierzig Jahren erst knapp Major. Es hätte ihm aber wohl kaum gepasst, Dienst in einer Truppe zu tun, wo er um ein, zwei Rangstufen unter denen stand, die mit ihm zusammen Fähnrich gewesen waren.
Manon telephonierte: Vetter André sei den Tag über dienstlich beschäftigt, müsse auch im Kasino mit seinen Herren frühstücken, aber zum Tee habe er sich angesagt, und sie erwarte natürlich Geneviève und Helene dazu. Und ob nicht Laroche auch mitkommen wolle, lasse ihr Vater fragen. André bringe eine Fülle glänzender Nachrichten von draussen.
Das ward dann das erste fröhliche Ereignis für sie alle seit Kriegsausbruch, dieser Teebesuch am Boulevard Vauban.
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