Paul Oskar Höcker
Ein Liller Roman
Saga
Der telephonische Verkehr von Lille mit Paris war seit dem frühen Morgen unterbrochen. Helene Martin hoffte umsonst auf ein Ferngespräch mit ihrem Gatten. Sie wusste nicht, ob er’s trotz der Kriegsgerüchte gewagt hatte, seine Geschäftsreise fortzusetzen, oder ob er zu ihr nach Lille unterwegs war.
Ein Glück, dass Manon Dedonker diesen Nachmittag aus dem Bad zurückkehrte. Helene suchte die Freundin in der Liller Stadtwohnung ihres Vaters, des Herrn Léon Ducat, am Boulevard Vauban zu erreichen. Sie waren jetzt beide Strohwitwen. Vor der Sommerreise hatten sie für diese paar Augusttage noch so übermütige Pläne geschmiedet, um ihre Männer eifersüchtig zu machen. Dem Rennen in Lambersart würden sie beiwohnen, und vielleicht gab es auch eine Autofahrt mit Offizieren des Regiments in Armentières. Nun jedoch war bei der Männerwelt für nichts mehr Sinn als für diese abenteuerlichen Mobilisationsgeschichten.
Endlich bekam Helene Verbindung mit dem Boulevard Vauban. Der alte Herr Ducat war am Fernsprecher, ernst, sorgenvoll wie immer. Natürlich sing auch er gleich von den Alarmnachrichten an. Er hielt die Lage für bedenklich. Auf der Durchfahrt durch Paris hatte er Poincarés Empfang auf dem Nordbahnhof miterlebt, seinen Triumphzug bis zum Elysée. Die Stimmung gegen die Deutschen sei sehr gereizt ... Wenn es wirklich zum Krieg zwischen Frankreich und Deutschland käme, was dann aus Helene und ihrem Gatten werden solle? Dass die Naturalisation immer noch nicht ausgesprochen sei! Ob ihr Mann denn nicht schleunigst hier auf der Präfektur alles ins Gleis bringen wolle?
Manons drollige Lachtonleitern unterbrachen Herrn Ducat immer wieder, schliesslich musste er seiner Tochter das Hörrohr ausliefern, und die beiden Freundinnen kamen endlich zur Aussprache. Nein, was hatten sie einander alles zu erzählen. Es war noch dieselbe übermütige Offenheit zwischen ihnen wie damals in der Pension; die Heirat, die Zeit, die Trennung hatten gar nichts daran geändert. Manon Ducat hatte mit siebzehn Jahren den Belgier Henri Dedonker geheiratet, dessen Zuckerfabrik nahe bei Lille lag, in Tirlemont, Helene ein Fahr später Henris Freund George Martin, der in die Maschinenfabrik ihres Vaters als Teilhaber eingetreten war und vor drei Jahren den Vertrieb landwirtschaftlicher Maschinen hier in Lille eröffnet hatte. Beide Ehen waren bis jetzt kinderlos. Helene zählte dreiundzwanzig, Manon schon fünfundzwanzig Jahre. Aber Manon wirkte viel jünger. Soviel Laune und Liebenswürdigkeit und Lebenskraft steckten in ihr. Sie wickelte ihren Mann ebenso um den Finger wie ihren Vater, sie bezauberte und beherrschte alle Welt. In Dinant, in ihrer wundervollen Pensionszeit, hatten sich sogar die frommen Schwestern von ihr gängeln lassen.
„Also, liebste Helene, Paris war diesmal eine Enttäuschung. Niederziehend, sage ich dir. Auf den Strassen ein wüstes Geschiebe — kein Taxameter zu haben — elegante Welt gar nicht zu sehen. Und nichts zu hören als Politik, Politik. Was gibt’s hier Neues?“
„Drüben beim Museum steht so ein infamer Bengel, der schreit die neuesten Depeschen aus. Ich kann sein greuliches Liller Patois noch immer nicht verstehen. Soll ich hinüberschicken?“
Manon lachte. „Du Süsse, nein, die Depeschen liest mir ja schon Papa vor. Ich soll durchaus zuhören ... Pa, du bist garstig, so lass mich doch ... Hast du das „Echo“ von heut Morgen gesehen, Helene, den Liller Spielplan für die Wintersaison? Nicht? O, es wird fabelhaft. Zur Einweihung der Oper komme ich natürlich von Tirlemont herüber. Papa hat Loge links genommen. Ihr auch? Dein Mann hat mir heilig gelobt, mir sehr die Kur zu machen.“
„Sieht ihm ähnlich. Aber ich werde nicht so leicht eifersüchtig. So wenig wie dein Mann.“
„Pa ist schrecklich philiströs und zankt uns beide aus. Leichtfertig seien wir.“
„Ach, Manon, es ist mir gleich wieder wohl, wenn ich nur deine Stimme höre, dein Lachen. Die letzten vierundzwanzig Stunden waren grässlich. So ganz allein hier. Und immer das Geschrei mit den Depeschen. Kannst du zum Tee zu mir kommen, Manon?“
„Nein, Süsse, ich hab’ Hausarrest. Mein Mann hat mittags von Tirlemont aus hier angerufen und sagen lassen: wenn er ein Auto austreibt, kommt er noch heute nach Lille.“
„Und nimmt dich dann gleich wieder mit? Nach Tirlemont? Aber das wäre ja ein Jammer. Dann hätt’ ich ja gar nichts von dir.“
„Ach, Süsse, und dabei graut mir diesmal vor Tirlemont wie noch nie. Was ich gegen Tirlemont habe? fragt Papa. Es ist eben belgisch. Pa wird böse, Helene, wir schwatzen ihm zu viel dummes Zeug. Ich darf dich doch erwarten? Wann?“
„Wenn hernach noch Zeit bleibt, gern. Schneider hat sich angesagt.“
„Schneider? Euer Sauerkraut-Ideal? Du Ärmste. Du wirst dir von ihm doch nicht die Kur schneiden lassen, aus Verzweiflung?“
„O du —! Aber nein, denke, nur ein Drittel der Arbeiter ist heute früh in der Fabrik angetreten. Der Betrieb müsse wahrscheinlich ganz schliessen. In Madeleine auf unserem Neubau wird auch nicht mehr gearbeitet. Alles, was Militär ist, wird eingezogen. Es ist grässlich.“
„Du hast mir versprochen, dass eure Villa im Herbst fertig wird. Das gibt doch wieder einen Vorwand, von Tirlemont herüberzuflüchten ... Ja, ja, ich schliesse schon, Pa! ... Auf Wiedersehen, Süsse!“
Helene legte die Hände an die Schläfen und schritt nachdenklich über das spiegelglatte Parkett der schmalen, saalähnlichen, lichtdurchfluteten Räume. Ab und zu blieb sie an einem der ungemütlich hohen Fenster stehen und blickte auf den im weissen Sonnenglast liegenden Platz zwischen Museum, Präfektur und Faidherbedenkmal. Noch immer schrie der Junge seine Depeschen aus, neue Trupps von Zeitungsausträgern stürmten lärmend über den Platz und teilten sich dann in die fächerartig auseinanderstrebenden Strassen. Das Haus war fast leer. Die Familien, die das Erdgeschoss und das obere Stockwerk bewohnten, weilten noch im Bade. Der Diener war wegen seiner Militärpapiere unterwegs, die Köchin machte Einkäufe, das Hausmädchen nähte in der Anrichte, war aber neu zugezogen und der Herrin noch fremd.
Nun musste sie an ihre Kindheit und an die Eltern denken. Ihr ganzer Lebenszuschnitt und das Zeitmass ihres Daseins gaben ihr sonst nur selten Gelegenheit dazu. Nicht erst durch ihre Heirat war sie dem Vaterhaus entfremdet; der frühe Tod ihrer Mutter trug mit Schuld daran. Ihr Vater, der Vielbeschäftigte, konnte sich ihr nicht widmen; so hatte er sie erst in Lausanne, dann in Dinant in Pension gegeben. Über ein Jahr währte auch ihre englische Pensionatserziehung. „Sprachen lernen, den Horizont erweitern!“ Kommerzienrat Kampff pflegte im Interesse seines Geschäfts weitreichende internationale Verbindungen. Als kleiner Maschinenbauer hatte er in Brandenburg angefangen, heute besass die Firma Weltruf. Nach Japan und Holländisch-Indien ging die Hauptausfuhr der landwirtschaftlichen Maschinen. Sehr willkommen war dem Kommerzienrat da als Schwiegersohn der weltkundige, sprachgewandte George Martin gewesen. An seinem Alter hätte der Kommerzienrat sich vielleicht gestossen — George war achtzehn Jahre älter als Helene —, aber Helene selbst hatte ihn damals herzlich ausgelacht. So frisch und anregend und wohlgepflegt und weltgewandt, so smart wie George war keiner der jungen Herren, die ihr sonst den Hof machten. Und sie waren ja auch beide sehr glücklich miteinander geworden. Beides ganz moderne Leute von Lebenskunst und Geschmack. Dass kein Familienzuwachs kam, war des Kommerzienrats Kummer. Helene hatte Kinder bis jetzt nicht vermisst. Ihr buntes, bewegtes, abwechselungsreiches Leben führte sie in dem ersten Frühling ihrer Ehe nach Südamerika und nach Japan. Mit dem darauffolgenden glänzenden Jahr in Brüssel, wo George die erste selbständige Filiale der zur Aktiengesellschaft erweiterten Kampffschen Fabrik eingerichtet hatte, war der Aufenthalt in Lille ja freilich nicht zu vergleichen.
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