„Die beiden Autos waren schon mittags beschlagnahmt, übrigens musste auch Jean gleich früh zur Zitadelle, sich stellen.“
„Da bin ich ja wunderschön versorgt. Wie allerliebst. Gut, marschieren wir also ...“
Sie klingelte dem Hausmädchen vergeblich. Die Jungfer stand unten in der geöffneten Haustür und liess sich von der Frau des Concierge die Ursache des Auflaufs da drüben erklären. Unschlüssig, ob er die junge Frau erwarten sollte, da sie sich von ihm noch nicht verabschiedet hatte, stieg Schneider die Treppe hinab.
Helene musste sich Hut, Seidenjacke und Sonnenschirm selbst besorgen. Als sie in den Marmorflur trat, kam es aber nicht mehr dazu, dass sie die Bedienstete zur Rede stellte. Eine schlanke junge Dame, mit grossen, grauen Augen und seltsam hellblondem Haar, das wie gefärbt wirkte, stürmte herein, atemlos, ohne Hut ... Als sie Helene sah, erfasste sie ihre beiden Hände ... „Solche Angst hatt’ ich um dich! Ich bin herübergelaufen, wie ich war! An der Post haben sie einen Deutschen halb totgeschlagen!“
„Ach, Geneviève, du liebe, gute, kleine Fee!“
Die Pförtnersfrau und das Hausmädchen mischten sich ein. Vor dem Hause waren Leute stehengeblieben. Der Lärm drüben wuchs, er kam näher.
Schneider hatte vor Fräulein Geneviève Laroche höflich den Hut gezogen. Sie beachtete ihn nicht, sondern nahm Helene sofort mit sich zum Treppenaufgang zurück. „Komm’, Liebe, ich muss mit dir sprechen, komm’ rasch.“
„Aber ich wollte noch eben mit Herrn Schneider ...“
Geneviève Laroche warf ihr einen blitzenden, verweisenden Blick zu.
„Um Gottes willen!“ flüsterte sie dabei und riss sie mit sich.
So war es also doch zu keinem Abschied mehr gekommen. Schneider setzte den Hut wieder auf, knöpfte seine marineblaue Jacke zu und verliess das Haus. Er hatte aber noch nicht die Anlagen am Faidherbedenkmal erreicht, als ein halbwüchsiger Bursche sich aus der Schar löste, die unter Geschrei die Polizisten und ihr Opfer zur Mairie begleiteten, und auf ihn mit dem Ausruf zurannte: „Da ist noch einer, da ist noch einer! Ein Alboche! Ein Alboche!“
Vom Eckfenster aus wurden die beiden Freundinnen Zeuge des wüsten Auftritts. Helene war ratlos. Sie wollte die Balkontür öffnen, hinaustreten, aber Geneviève hielt sie zurück.
„Und du wärst imstande gewesen, Helene, dich an seiner Seite auf der Strasse zu zeigen. Unverantwortlich. Ich wollte dir schon immer sagen, dein Mann hätte ihn längst wegschicken sollen.“
„Aber sieh nur, sieh nur — o, sie schlagen ihn —!“
„Irgend jemand muss ihn erkannt haben. Komm’ jetzt doch bloss vom Fenster weg, Helene.“
Es war nur ein Knäuel von Menschen zu sehen mit erhobenen Fäusten, drohend geschwungenen Spazierstöcken. Aber da — der grosse, helle, glattgeschorene Schädel des Deutschen tauchte soeben wieder auf — der Hut fehlte, und es rann ihm etwas Rotes, Glänzendes über das Ohr und den Nacken. Helene überlief es eiskalt. Waren das noch Menschen? In der Überzahl einen Wehrlosen überfallen und misshandeln!
„Geneviève — er blutet — aber das ist ja fürchterlich!“
„Es reizt die Leute jetzt schon eine Kleinigkeit. Er sieht auch gar zu teutonisch aus. Sie schieben ihn wohl nach der Mairie ab ... Das ist wie ein Fieber über die Leute gekommen, überall wittern sie Spione.... Also Mama lässt dir sagen, du sollst sogleich zu uns hinüberkommen und heute auf alle Fälle bei uns schlafen. Sie macht sich solche Sorge um dich.“
„Wie denkt dein Vater über die Lage?“
„Ach, Vater ist ganz erschüttert. Ich hätte nicht geglaubt, dass so viel Weichheit in ihm ist. Er hat keine Hoffnung mehr, dass Frieden bleibt. Aber wie wundervoll ist die Proklamation von Delasalle. Hast du sie gelesen? Vater hatte ganz nasse Augen, als er sie las.“
Helene hatte sich gesetzt. „Mir sind die Beine schwach geworden. Und im Magen ist mir — so seltsam wie vor einer Seereise.“
„Arme Helene, wäre doch dein Mann erst da!“ Geneviève setzte sich zu ihr auf die Lehne des Fauteuils und umfasste sie zärtlich. „Da sind sie mit ihrem schrecklichen Herrn Schneider endlich abgezogen,“ sagte sie, noch einen Blick durchs Fenster werfend, und atmete auf. „Manon hat mich vorhin angerufen. Wir sprachen gerade von dir, und da kam noch eben Berthe mit Benjamin, ganz aufgelöst, sie hatten gesehen, wie der Spion in die Post flüchten wollte.... Manon weiss nun auch nicht, was werden soll. Ihr Mann gehört zur Bürgergarde, müsste also eigentlich in Tirlemont bleiben. Vielleicht lassen sie ihn gar nicht mehr fort.“
„Ja — und George? Ihr macht mir jetzt solche Angst.“
„Dein Mann ist französischer Staatsbürger geworden — ihm kann niemand etwas anhaben. In Paris hat er ja die besten Beziehungen. Und Vater sagt: eine einzige Anfrage hierher an die Präfektur genügt.“
„Man kann aber nicht mehr sprechen — die Verbindung mit Paris ist unterbrochen.“
„Für die Behörden nicht.“
„Ach, Geneviève, wenn sich dein Vater unser annähme! Weisst du, Manons Papa ist nie so recht warm zu mir gewesen. Aber wenn du deinem Vater zusprächst — er hat hier doch so viel Einfluss —“
„Sag’ lieber, er hat ein goldenes Herz.“ Das junge Mädchen strich der Freundin über die kalte, schmale Hand.
Helene fühlte die Wärme, die von Geneviève ausging, belebend und zugleich beruhigend. „Ja, das hat er,“ sagte sie rasch.
„Komm’, Helene, mach’ dich fertig. Du wirst dich gleich wohler fühlen, wenn du drüben bei uns bist.“
„Weisst du, Geneviève, es ist mir ordentlich bange nach deinen Geschwistern.“
Geneviève lachte. „Die Apfelgesichter, hast du früher gesagt ... Weisst du, und dann telephonieren wir Manon, dass sie zu uns kommt.“
„Ihr Papa lässt sie jetzt wohl kaum weg. Aber reizend wäre es. Dann versetzen wir uns im Geist wieder nach Dinant. Gelt?“
„Damals ist mir’s aber immer ziemlich schlecht bei euch ergangen.“
„Nun ja, du warst doch ein Baby gegen uns.“
Genevièves Blicke glitten bewundernd über die schlanke Pariser Gestalt der Pensionsfreundin. Mit ihren braunen Augen, braunen Haaren, tiefdunkeln und langen Wimpern, die wie ein Schleier wirkten, mit der geschwungenen Nase, dem lebhaften Mienenspiel, mit ihrer ganzen überlegenen und doch geschmeidigen Art hatte Helene tatsächlich etwas von einer Pariserin, was in Genevièves Meinung das höchste Lob darstellte. Sie kam sich recht unansehnlich neben ihr vor.
Während sie die Wohnung verliessen, sagte Geneviève: „Und seltsam — nicht? — wie rasch ich gealtert habe. Nein, nein, es ist schon so. Wenn Mutter krank war, lag immer alles auf mir. Und Vater kann gar nicht mehr ohne mich auskommen. Ich sei sein Hausgeistchen, hat er gesagt. Ist das nicht hübsch? Ach, ich liebe Vater.“
Sie gingen hastig über den Republik-Platz. Links, vor dem Museum, in der grellen Sonne, weilte kein Mensch, aber rechts, vor der Präfektur, standen erregt redende Gruppen. In der klaren, weissen Nachmittagsluft zitterten ungewisse Töne wie Musik oder Glockenläuten aus der Ferne; und die Strassenrufe bildeten eine ununterbrochene, aufpeitschende Melodie.
Und immer schärfer und bestimmter hob sich aus dem Gemisch jetzt ein seltsamer Fanfarenruf ab. Helle Trompetensignale waren es.
Sie blieben am Eingang zur Inkermanstrasse stehen. Überall erstarrte jetzt das Leben. Man horchte auf — sah einander an.
Drüben vor der Präfektur rief ein Herr, der den Strohhut schwang: „Das ist die Mobilisation!“
Geneviève wusste von ihrem Vater: nach der gesetzlichen Vorschrift hatte in der ganzen Republik die Polizei unter Trompetenschall das Dekret zu verkünden. Also war es jetzt so weit.
„Hoch die Armee!“ schrie der Herr drüben, den Strohhut schwenkend.
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