Und da und dort fiel man ein. Aber die meisten setzten sich sofort in Bewegung und stürmten dem Stadtplatz zu, wo sich die Hauptwache und das Hauptblatt der Stadt und des Departements befanden.
Als die beiden jungen Damen im Eilschritt in die Inkermanstrasse einbogen, kam ihnen schon Herr Laroche in höchster Erregung entgegen. Die Fanfaren hatten ihm die Gewissheit gegeben: der Krieg war erklärt!
Der Rausch der Begeisterung kam in den nächsten Stunden über die Stadt. Auch die Besonnenen und die Zagen waren sich nicht mehr klar über die Gefahren, denen der Staat entgegentrieb. Der Heisshunger ausgepeitschten Ehrgeizes, ausschweifende Schwärmerei und verstiegener Stolz rissen alle mit sich fort. Das Wesen dieses Volkes war nie dazu angetan, sich Rechenschaft über Stimmungen abzugeben. Es hätte den als Verräter gekreuzigt, dem es eingefallen wäre, die Vernunft als Richterin anzurufen. Man wollte nicht Geschichte — man suchte den Taumel. Und man war glücklich in ihm.
Unvergessliche Bilder rollten sich vor Laroche und seinen beiden jungen Begleiterinnen ab. Geneviève hatte links, Helene rechts bei ihm eingehängt. Berthe, der die Tränen in den Augen standen, weil sie den Vater nicht auch mit in die Stadt begleiten durfte, hatte Geneviève noch den Hut in den Flur gebracht — sonst wäre die kleine Vizemama am Ende gar barhäuptig mitgezogen.
Auf dem Boulevard de la Liberté kam man noch flott vorwärts, aber durch die Rue Nationale ging es nur im Schritt. Und überall drängten Bekannte an Laroche heran, begrüssten ihn, riefen ihn an. Es war vielen, die ihn sahen, ein Bedürfnis, in dieser erregenden Stunde ein gutes Wort von ihm zu hören. Soviel Überzeugung und Sicherheit lag in seiner Auffassung. Und dies innere Feuer, das in ihm brannte, und das seine grossen, grauen, wimperbeschatteten Augen verrieten, wenn er sie so voll aufschlug!
Auch Helene schwärmte für den Vater ihrer Freundin. Sie hatte sogar seinen politischen Auseinandersetzungen immer gern zugehört, weil er so männlich schön und edel war, wenn er in Begeisterung geriet, und weil er mit seinem Schwung der Rede jeden mitfortreissen musste. Und von allen Freundinnen seiner Tochter verzog er wieder Helene am meisten. Es sprach vielleicht auch der Triumph mit, dass er die hübsche junge Frau allmählich zur Vollblutsranzösin erzog. „Sie ist im Zuge halb zwischen Brüssel und Paris,“ hatte er einmal im Scherz gesagt, „also im besten Begriff, in Lille anzukommen.“
„Und was mich am meisten freut,“ sagte Helene mitten im Gewühl, von dem sie sich wie von einer Woge tragen liessen, „ist, dass es hier keine Schutzleute gibt.“
Laroche meinte lächelnd: „O, sie sind schon da, aber man braucht sie nicht. Ja, das muss man unseren Landsleuten lassen, sie fühlen sich selbst im Rausch der Begeisterung als Kulturvolk ... Und hören Sie diesen wundervollen Rhythmus ...“
Irgendwer hatte mitten auf der Strasse die Marseillaise angestimmt, immer mehr fielen ein. Es klang wirklich schön, Helene kamen unwillkürlich die Tränen in die Augen.
„O sieh, Papa, Helene weint auch!“ sagte Geneviève. „Gelt, man braucht sich deshalb nicht zu schämen?“
Kein Wagen, kein Auto, keine Strassenbahn kam mehr vorwärts. Eine einzige grosse Armee war es, die über die ganze Breite der Rue Nationale nordwärts zog. Arbeiter, Studenten, Verkäuferinnen, Herren jeden Alters, dazwischen keck aufgeputzte Dämchen ...
Die Marseillaise ward übertönt von Trompetenklängen. Des Ausrufers Stimme liess sich dann vernehmen. Aber selbst die dicht dabei Stehenden konnten in dem allgemeinen Gewühl kein Wort verstehen. Wieder Fanfaren. Und alles klatschte Beifall. Und helle, schrille Stimmen erhoben sich aus der Menge: „Es lebe die Armee! Es lebe die Armee!“
Die Plätze vor den Cafés und Restaurants waren von Tischen und Stühlen geräumt. Das wogte in ununterbrochener Flut rund um die Siegessäule, andere Ströme ergossen sich in die breite Rue Faidherbe und zum Nordbahnhof. Für jeden vom Stadtplatz Verschwindenden kamen aber zwei neue hinzu. Vor der Hauptwache stand die Menge festgekeilt. Oben war die Trikolore gehisst. Und immer von neuem begann der Gesang der Marseillaise.
Doch eine schmale Gasse zwischen den lebenden Mauern wussten sich vom breiten Tor des „Echo du Nord“ die flinken Zeitungsjungen zu bahnen, die mit schweren Stössen der Abendausgabe beladen waren.
Und im Umsehen änderte sich das Bild. In die dunkle Masse mischte sich das grelle Weiss. Alle Hände griffen nach den druckfeuchten Zeitungen. Durch Hunderte von Kanälen floss die neue Farbe. Und schliesslich zählten die Blätter, die da rauschend und knisternd entfaltet wurden, nach Tausenden.
Das allgemeine Geschrei sank herab. Einzelne Stimmen traten dafür hervor.
Laroche war mit seinen Begleiterinnen auf den Perron bei der Säule geraten. Selbstbestimmung gab es nicht mehr. „Es wird den jungen Damen zuviel?“ fragte er etwas besorgt.
Sie schmiegten sich beide näher an ihn. „Es wird mir unvergesslich sein!“ sagte Helene. Und Geneviève weinte und küsste heimlich den Ärmel des Vaters, indem sie sich gegen seine Schulter lehnte.
„Das ist der Tag, auf den das arme brutalisierte Frankreich über vierzig Jahre gewartet hat!“ Laroche wiegte sie beide mit sich hin und her. Aber durch Helene ging ein Schauer. Sie fühlte aus Laroches Ton zum erstenmal einen Hass heraus, der sie erschreckte. Galt der Hass auch dem Hause ihres Vaters? Es war ihr ja niemals Heimat gewesen, aber doch ...
Wieder zerriss die Gedankenkette. Laroche begann zu singen. Sie blickte auf. In tiefer Bewegung sang er die Marseillaise. Sie schaute in sein leuchtendes Angesicht, das ganz jung geworden war. Sein Gesang hob sich durch den Wohlklang der Stimme und durch die klare Aussprache so vorteilhaft von dem Durcheinander ab, dass im Umkreis alles aufhorchte. Gegen Schluss der ersten Strophe erst wagten andere einzustimmen. Und nun sang auch Geneviève mit. Und selbst Helene.
Sie war viel zu sehr Phantasiemensch, als dass sie sich dem Schauspiel nicht ohne alle Skrupel hingegeben hätte. Nein, an ihre deutsche Abstammung wollte sie jetzt gar nicht denken. Deutschland hatte ihr kaum mehr als ihre Muttersprache gegeben. Französischem und englischem Einfluss verdankte sie alles, was sie wusste, was sie empfand, was sie war. Nur hinderlich war ihr die deutsche Abkunft gewesen. Und sie hatte ja oft genug in ihren Ferien den eigenen Vater verärgert über die Kleinlichkeit deutschen Beamtentums, über die Kurzsichtigkeit und Engherzigkeit deutscher Behörden, über den Krähwinkelstandpunkt der deutschen Politik losziehen hören. Und das Wort ihres Vaters, der die ganze Welt kannte, hatte Gewicht. Ihr Mann urteilte noch absprechender. „Dem Deutschen ist nun einmal die Schlafmütze angewachsen,“ sagte er. Und der preussische Gardeassessor war ihm aufs bitterste verhasst. Hatte Helene auf den weiten Auslandsreisen Deutsche getroffen, dann waren es meist Gestalten, denen man am liebsten auswich. Ärmlichkeit, Knickrigkeit neben Protzentum. Die selteneren Landsleute — die eleganten, gewandten, grosszügigeren und aufgeklärteren — legten gleich ihr und ihrem Mann keinen Wert darauf, als Deutsche von Deutschen angesprochen zu werden.
„Nur die vielen jungen Menschen in beiden Ländern tun mir leid, die man da so unnütz hinopfert,“ sagte Helene, als die Hochrufe auf das Militär verbraust waren.
Laroche nickte ernst. „Mein liebes Kind, glauben Sie mir, Deutschland hat in seiner Gesamtheit die Kulturhöhe noch lange nicht erreicht, um sich solcher Verantwortlichkeit bewusst zu werden. Es ist unersättlich. Aber die Vergeltung ist unterwegs.“
Helene seufzte. Sie wusste nichts zu erwidern. Trug Deutschland wirklich die Schuld ganz allein?
Geneviève schrie plötzlich auf. In der Gruppe neben ihr war ein wilder Lärm entstanden. Ein paar junge Burschen drängten an ihr vorbei. Einer blieb mit dem Rockschoss an ihrer Gürtelschnalle hängen. Und so wurden sie alle drei unversehens in einen Knäuel Menschen mit hineingezogen, der sich hin und her schob, ohne dass ein Mittelpunkt erkennbar war. Aber man hörte schlagen, schreien, man sah erhobene Fäuste.
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