„A bas la guerre!“ Ein Halbwüchsiger war es, der es gerufen hatte. Und erbarmungslos entlud sich der Zorn der Menge über sein Haupt.
„Vive l’armée! A bas Guillaume! Hou! Hou! les Alboches! Conspuez les Alboches! Conspuez Guillaume!“
Laroche hatte die beiden jungen Damen fest an sich gepresst; mit der ganzen Wucht seines Körpers warf er sich rückwärts gegen die anstürmende Menge, die links und rechts an ihnen vorbeidrängte; Schritt für Schritt kamen sie so aus dem Knäuel wieder heraus.
„O Gott — jetzt aber rasch nach Hause!“ rief Geneviève, von Angst gepackt. Ihr Hut hing schräg herab, ihr Haar war gelöst, ein Blusenärmel war halb abgerissen.
Das wüste Toben ward schon wieder übertönt von dem Gesang der Marseillaise. Nur bruchstückweise hörte man sie. Aber die ganze Luft schien davon erfüllt. Bald von hier, bald von dort schmetterten die flammenden Verse. Es war ein Rausch, der alle gepackt hatte.
Endlich hatten sie die Rue Esquermoise erreicht. Durch eine stillere Seitenstrasse entflohen sie dann dem Gewühl.
„Aber ich freue mich, dass wir dabei waren,“ sagte Geneviève aufatmend, sich die nassen Augen wischend.
Laroche machte sich einen Plan zurecht, um mit seinen Begleiterinnen unbehelligt heimzukommen. Die Rue Nationale musste man jetzt unter allen Umständen vermeiden. In dichten, breiten Ketten zog dort das Volk singend, schreiend entlang. Damen waren da nicht am Platze. Er wollte lieber den Umweg um den Sommergarten machen, um den Boulevard wiederzugewinnen. Doch als sie zu dem kleinen Park gelangten, sahen sie, dass sich vorn am Denkmal von Desrousseau ein Spalier von zwanzig, dreissig Reihen staute. Man hörte Musik — helle, fröhliche Militärmusik.
„Die Dreiundvierziger ziehen von der Zitadelle zum Bahnhof!“ Laroche erfuhr es von einem im Seschwindschritt vorbeistürmenden Jungen.
Und da bekam auch Geneviève wieder Mut. Ihr Lieblingsregiment zog aus! O, da mussten sie dabei sein! So viele der Offiziere kannten sie — und die meisten Soldaten stammten aus der Stadt selbst! Auch der Bruder von Angele, ihrer Köchin! Das ganze Regiment war seit gestern auf der Zitadelle zusammengehalten worden. Niemand hatte gewusst, was mit ihm geplant war.
Nun liefen sie alle drei hinter dem Jungen her. Sie hörten das Beifallklatschen und Hochrufen der spalierbildenden Menge und dazwischen die Fanfaren der stolzen Kapelle.
Hinter der Mauer von Menschen konnten sie nichts sehen. Geneviève hüpfte lachend ein paarmal in die Höhe, um einen Blick über die Köpfe zu erhaschen. Aus einem Erdgeschossfenster rief da ein Mann dem Dreiblatt zu: „Im Hausflur steht eine Bank, Monsieur Laroche. Ich werde sie Ihnen durch meinen Jungen schicken.“
„Danke! Danke! Ich hole sie selbst!“ Und Laroche kam gleich darauf, flott eine Bank über dem Haupt balancierend und die Melodie der Kapelle mitsummend, aus dem Hause zurück. Er kannte den Fremden nicht; es kam aber häufig vor, dass man ihn bei seinem Namen ansprach.
Von ihrem erhöhten Standplatz aus übersahen sie bequem den Teil der Strasse bis zum Boulevard, aus dem der Anmarsch der Truppen erfolgte. Aber das waren nicht nur Soldaten, nein, Männer in Zivil, Knaben, Frauen, Kinder, Mädchen zogen aus beiden Seiten der Kolonne mit. Viele weinten. Viele lachten. Viele sangen. Aus den Reihen der Soldaten wurden Scherzworte in die Menge geworfen. Ein blondbärtiger Herr, den man allerdings leicht für einen Deutschen halten konnte, und der festgekeilt in der zweiten Reihe hinter einem Zigarettenverkäufer stand, hatte viel auszustehen. Einer spie sogar nach ihm. Er sei kein Deutscher, verwahrte sich der. „Was will der Uhrendieb?“ riefen sie. „Du, sag’ doch, Alboche!“ — „He, wo hat er seine Mobilisationsorder?“ — „Du, bald trinken wir in München einen Bock!“ So schob sich das weiter und weiter. Dichter Staub lag über allem. Es roch nach Leder und Schweiss und Zwiebeln. Dazwischen flatterten Wolken von Zigarettendampf. Der Blonde lachte nervös und teilte immerzu Zigaretten aus; er kaufte dem Jungen den ganzen Vorrat ab. Er sei Schweizer, versicherte er mehrmals. Aber er blieb während des ganzen Vorbeimarschs ein Angriffsziel. Helene klopfte das Herz, jedesmal, wenn es gegen den Blonden ging, musste sie an Schneider denken; und wieder überschlich sie eine heimliche Furcht vor diesem Volk, dem sie von Kind auf vertraut war, die Furcht, als sei es ihr in der Tiefe des Herzens doch immer noch fremd geblieben.
Aus der Menge auf der anderen Seite der Strasse schrie einer mit fast komisch hell und hoch klingender Stimme: „Marcel, Marcel!“ Und in einer Gruppe von Soldaten hob einer das Gewehr hoch, auf dem ein grosser Rosenstrauss steckte. „Marcel, bring’ mir eine Pendule mit von den Alboches! Gib dir Müh’, dass du die findest, die sie meinem Grosspapa anno Siebzig gestohlen haben!“
Darüber gab’s ein schallendes Gelächter. Am lautesten lachte der Blonde. Einer wiederholte es dem andern. In der einsinkenden Dämmerung und dem dicken Staub unterschied man nicht mehr die einzelnen Gestalten, nur noch die blaue, quirlende, rinnende, brandende Woge, auf der einzelne Reiter vorbeigetragen wurden, Blumen, Bänder, Gewehrläufe, da in die Luft zappelnde Kinderarme, Sommerhüte von Bräuten, Schwestern, Frauen ...
Längst hörte man nichts mehr von der Musik. Aber mit dem neuen Bataillon, dessen Spitze eben um die Ecke bog, kam ein ganz neuer Eindruck. Kein Lärmen, kein Schreien in der Truppe; auch die Volksmenge horchte allmählich auf.
„O, sie singen ‚Quinquin‘!“ sagte Geneviève, die in der Mitte auf der Bank stand. Und sie packte ihres Vaters und Helenens Arm und presste sie an sich. Es erschütterte sie geradezu, dass diese in den Krieg ziehenden erwachsenen Männer den wunderhübschen Einfall hatten, hier beim Vorbeimarsch am Denkmal von Desrousseau, dem Liller Volkssänger, dessen volkstümlichstes Lied anzustimmen, das Wiegenlied im Liller Platt, das wohl den meisten in der Kindheit von Mutter, Schwester, Tante oder Wärterin einmal vorgeträllert worden war. Und da es nun zu Sieg oder Tod ging, wirkte sie so herzlich, so sinnig, die alte liebe Kinderweise.
„Dors, min p’tit quinquin, min p’tit pouchin, min gros rojin, Te m’f’ras du chagrin, si te u’dors point qu’à d’main!“
Sie klatschten Beifall. Sie sangen hüben und drüben mit. Aber die Kehle ward ihnen eng dabei. Nun konnte auch Laroche nicht mehr an sich halten. Er schluchzte plötzlich auf. Aber gleich darauf lachte er, er zwang sich dazu, und dann stimmte er mit seiner schönen Stimme in das Kinderlied mit ein. Dazwischen gab’s wahre Beifallssalven, sobald eine am Denkmal vorbeiziehende Kompagnie gerade eine Strophe beendigt hatte. Und in das zärtlich-neckische Schlummerliedchen mischten sich schon wieder die Fanfaren der Kapelle, die dem letzten Bataillon voranzog.
In Helene kämpften Angst und Rührung. Eine plötzliche Gorge um ihren Mann peinigte sie. Und irgend etwas trieb sie, Geneviève den Gefallen zu tun und dem blutjungen Fähnrich, der den letzten Zug führte, Kusshände zuzuwerfen. „Ja — muss man sie nicht liebhaben?“ sagte sie, nur um nicht zu schweigen.
Geneviève schluchzte leise auf. „Rocher ist erst siebzehn Jahre!“
„Ich freue mich, dass Sie das mit erleben, Helene,“ sagte Laroche. Zum erstenmal nannte er sie bei ihrem Vornamen. Und er küsste erst seine Tochter, dann sie je zweimal auf die Wangen, links und rechts vom Mund. Geneviève fuhr sich immer wieder über die Augen. Sie war ganz aufgelöst. Beim Küssen aber verloren sie das Gleichgewicht, und sie mussten schleunigst alle drei von der Bank hinunterspringen.
Da lachten sie dann und zogen aus dem Umweg nach Hause.
Helene wusste, dass Laroche sie lieb hatte. Es war eine seltsame Mischung von väterlicher Güte und manchmal heiss aufflammender Sinnlichkeit, die den Fünfzigjährigen ganz verwandeln konnte. Sie hatte damit gespielt, sie war es ja gewohnt, dass man ihr den Hof machte. Aber in dieser Stunde trieb sie ihre unbestimmte Angst, mehr als sonst aus sich herauszugehen, in Ton und in Blick, und sie liess es geschehen, dass er sie im Weitergehen zärtlich an sich drückte. Innerlich schalt sie wohl mit sich: das ist Feigheit. Aber so recht kam sie in dem Wechsel der Eindrücke und der Stimmungen gar nicht zur Besinnung über sich selbst. Nur dass sie einen Schutz brauchte, das wusste sie.
Читать дальше