„Es wird für Deutschland eine Katastrophe kommen, wie die Weltgeschichte sie nie zuvor gesehen hat,“ sagte der Notar. Er war aus einer Abendsitzung sehr angeregt nach Hause gekommen, zerwühlte und glättete seinen Umhängebart, und auch sein bleiches Gesicht, das sonst so maskenhaft unbewegliche, zeigte Leben. Er fühlte sich in seinem Fahrwasser, wenn er mit grossen, tönenden Worten anklagen konnte. Das war auch der starke Erfolg seiner Verteidigungsreden vor dem Tribunal, dass er sich weniger seines Klienten annahm, als vielmehr dessen Gegner vor die Schranken forderte und mit diesem furchtbar ins Gericht ging.
Heute war Deutschland der Angeklagte — personifiziert durch „le Kaiser“. Und Ducat besass eine solche Fülle von Anklagematerial, dass Helene schauderte. Sie hatte sich um politische Dinge ja nie gekümmert. Nach ihren persönlichen Erfahrungen mit deutschen Pensionsfreundinnen und deren Umgangskreis fand sie die deutsche Gesellschaft spiessbürgerlich und kleinlich. Ihre Beziehungen und ihre Sympathien hatten sich darum schon frühzeitig Manon und Geneviève zugeneigt. Und sie hätte George Martin wohl kaum geheiratet, wenn er in irgendeiner deutschen Kleinstadt ansässig gewesen wäre. Georges Urteil über seine frühere Heimat war noch absprechender als das ihre. Er hatte sich ja auch mehr in der Welt umgesehen als sie. Über den preussischen Militarismus hatte er sich oft genug lustig gemacht. Hier freilich ward er nicht mit Spott abgetan. Léon Ducat stellte ihn als die furchtbare Ursache der Zerschmetterung aller Kultur hin. Es konnte keinen Kulturfortschritt mehr geben, solange die gebildete Welt vor den eisenstarrenden Drohungen Wilhelms zurückschreckte. „Jetzt werden wir Deutschlands Militarismus zerschmettern — und auf Jahrhunderte hinaus werden wir glückliche Menschengeschlechter schaffen, denen die Segnungen der Kultur unseres aufgeklärten Volkes zugute kommen werden.“
Manon hatten die politischen Reden schon wieder viel zu lange gedauert. Sie verging vor Ungeduld. Ihre schönen blauen Augen füllten sich immer wieder mit Tränen. Sie wusste so viel liebe, gute Züge von Henri zu erzählen. Ach, und wenn doch nur ein Mann da wäre, mit dem man sich aussprechen könnte! „Warum hast du Broussart nicht mit heraufgebracht, Geneviève? Und hat denn André gar nichts mehr von sich hören lassen? Man weiss auch nicht, wo sein Regiment hingekommen ist? Es hiess doch, sie bleiben als Besatzung hier?“
Die Freundinnen waren schon im Begriff aufzubrechen, als Broussart sich am Telephon meldete.
„Er hat Näheres erfahren!“ rief Manon aufgeregt ins Zimmer hinein.
Eilig kamen Geneviève und Helene ihr nach. Auch der Notar folgte.
Und da gab es nun ein kurzes, erschütterndes Gespräch. Broussart hatte durch einen besonderen Zufall Verbindung mit einem bekannten Oberstabsarzt bekommen, der ihm über verschiedene Punkte hatte Auskunft geben können. Es war Dumoulin, den Manon Dedonker ja auch kannte. Er hatte Henri Dedonker, der im Auto nach Dinant fuhr, kurz vor dem Maasübergang getroffen. Das war vorgestern gewesen. Dedonker hatte ihm gesagt, er sei als Adjutant seiner Sektion der Garde civique zur Information bei General Puys unterwegs. Es war also leider anzunehmen, dass er in der Nacht, in der der Überfall stattgefunden, in Dinant geweilt hatte. Die neuesten Berichte über den Massenmord, den die Deutschen in Dinant begangen hatten, lauteten so abscheuerregend, dass es ihm unmöglich war, alles wiederzugeben. Ein paar Tage lang mochte Manon noch immerhin hoffen — aber es war vielleicht noch klüger, unter diesen grausamen Verhältnissen lieber das Schlimmste anzunehmen.
„Das heisst also — dass sie mir — Henri — erschossen haben?“
„Ich fürchte es.“
„O du barmherziger Gott und Vater im Himmel! Mein Henri! Mein armer guter Henri! Und wir hatten uns gar nicht so recht Adieu gesagt!“
Mit Tränen in den Augen, von Mitleid verzehrt, verabschiedeten sich endlich die beiden Freundinnen. Und Helene fühlte, wie ein heisser Zorn gegen ihr ehemaliges Vaterland in ihr aufstieg. Zum erstenmal hatte sie unmittelbar unter der Barbarei des Krieges zu leiden. Das war keine Zeitungsnachricht, die von Greueln irgendwo und gegen irgendwen erzählte. Das traf die, die ihr am nächsten standen, und sie schämte sich der Regungen, die noch vor kurzem zu entschuldigen suchten, was unverzeihlich war.
Die „Greueltaten der Deutschen“ füllten einen Hauptteil der Zeitungen. Sie bildeten den Mittelpunkt aller Gespräche. Deutsche beschossen die mit dem Roten Kreuz kenntlich gemachten Sanitätskolonnen und Feldlazarette der Franzosen und Belgier, sie plünderten und raubten, sie vergewaltigten Frauen und Mädchen, sie folterten ihre Gefangenen ...
Am furchtbarsten wirkte auf Helene ein Bild, das eine Pariser Zeitschrift brachte. Es war nach einer in Belgien aufgenommenen Photographie hergestellt. Ein vierjähriges Kind, ein Mädchen, dem die Ärmchen abgehackt waren. „Ein deutscher Sieg!“ stand darunter.
Helene weinte, das Herz drehte sich ihr im Leibe um. War denn alles, was es an Roheit und dumpfen, tierischen Trieben in den untersten Schichten des deutschen Volkes gab, an die Oberfläche gelangt und beherrschte nun die ganze Soldateska?
Sie zitterte um das Schicksal ihres Mannes. Rechnete man ihn zu den Deutschen, so mass man ihm auch Mitschuld an all diesen Greueln bei. Und dann wehe ihm! War der Hass der Franzosen denn nicht zu verstehen?
In ihren neuen Pariser Kostümen, mit ihrer von Manon wie von Geneviève so bewunderten Pariserinnenfigur wäre sie nirgends Gefahr gelaufen, für eine Deutsche angesehn zu werden. Immerhin war es ihr eine Genugtuung, die Helferinnentracht zu tragen. Es war ja nicht die Gefahr allein, der es auszuweichen galt, — jetzt ergriff sie schon etwas wie Scham darüber, dass sie selbst einmal Deutsche gewesen war.
Musste nicht ein tiefer Riss durch das deutsche Volk gehen, der die wirklich Gebildeten von der durch den Militarismus irregeleiteten Masse schied?
Der Hass in der Bevölkerung auf alles, was deutsch war, stieg von Tag zu Tag. Als das „Echo“ die Kunde von dem gewaltigen Sieg der Serben bei Nisch brachte, da rief man sich’s auf offener Strasse frohlockend zu. Helene, die sich mit den Blondköpfen unterwegs befand, hörte die Nachricht von Benjamin, der davongestürmt war, um ein Zeitungsblatt zu erstehen.
„Vier Tage hat die Schlacht gedauert!“ rief er schon von weitem, die Zeitung schwingend. „Hundertfünfzigtausend Österreicher von den Serben geschlagen. Sie sind über die Drina geflohen. Neunzehntausend Tote und fünfundzwanzigtausend Gefangene!“
„Ah, über die Drina, denkt nur, über die Drina!“ rief Berthe begeistert.
„Was ist das — die Drina?“ fragte Fleurette. „Ist es dasselbe wie der Rhein?“
Niemand wusste es zu sagen. Helene mochte die Auskunft nicht geben; sie wollte mit ihrer Wissenschaft hier auf offener Strasse nicht auffallen.
„Hoch die Serben!“ rief Benjamin. Und es fanden sich mehrere Vorübergehende, die einstimmten.
Den Blondköpfen war es ein grosses, festliches Erlebnis.
Aber gegen Abend brachte Geneviève eine weniger rosige Botschaft. Es hiess, die Deutschen hätten Brüssel besetzt. Sie wollte durch Manon Näheres erfahren, aber die Fernsprechleitungen schienen sämtlich unterbrochen. Geneviève hielt die Ungewissheit nicht aus. „Gehen wir zu Madame Luthin,“ schlug sie der Freundin vor, „ich muss mein Kostüm anprobieren — und Madame Luthin hat ja immer die neuesten Nachrichten!“
In dem eleganten Empfangszimmer am Boulevard de la Liberté trafen sie auch Manon. Sie probierte eine Trauertoilette an. Madame Luthin und drei junge Mädchen waren um sie bemüht. Manon hatte ihnen die Geschichte von der Hinmordung ihres Gatten soeben erzählt — ihre Augen waren vom Weinen noch stark gerötet.
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