Ronny Blaschke
GESELLSCHAFTS SPIELCHEN
Fußball zwischen Hilfsbereitschaft und Heuchelei
VERLAG DIE WERKSTATT
Ronny Blaschke,geboren 1981 in Rostock, studierte Sportund Politikwissenschaften an der Universität Rostock. Als Journalist und Autor beschäftigt er sich mit politischen Hintergründen des Sports. Blaschke lebt in Berlin und arbeitet für das Deutschlandradio, die „Süddeutsche Zeitung“ und die Deutsche Welle. Mit dem Buch „Versteckspieler – Die Geschichte des schwulen Fußballers Marcus Urban“ hat er 2008 eine intensive Debatte über Homophobie angestoßen. Die Recherchen für „Angriff von Rechtsaußen – Wie Neonazis den Fußball missbrauchen“ (2011) ließ er in politische Bildung einfließen, etwa in rund 250 Vorträge bundesweit. Zudem konzipiert und moderiert er Infoveranstaltungen unterschiedlicher Art. Blaschke ist für seine Arbeit mehrfach ausgezeichnet worden, unter anderem mit dem Julius-Hirsch-Ehrenpreis 2013.
mail@ronnyblaschke.de
www.ronnyblaschke.de
www.facebook.com/ronny.blaschke
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.deabrufbar.
Copyright © 2016 Verlag Die Werkstatt GmbH
Lotzestraße 22a, D-37083 Göttingen
www.werkstatt-verlag.de
Alle Rechte vorbehalten
Satz und Gestaltung: Die Werkstatt Medien-Produktion GmbH, Göttingen
Umschlagentwurf: Hennes Elbert
ISBN 978-3-7307-0273-4
Inhalt
Einleitung
Relevanz statt Wachstum
Mehr Ehre als Amt
Der Amateurfußball ist auf Helfer wie Gerd Liesegang aus Berlin angewiesen
Drei Schritte vor, zwei Schritte zurück
Die widersprüchliche Gesellschaftspolitik des DFB
Ideenlabor mit Spielbetrieb
In der Bundesliga fördert Werder Bremen die Stadtentwicklung so sehr wie kein anderer Klub
Kurven-Aktivismus
Immer mehr politische Ultras bereichern das schwindende Jugendangebot der Kommunen
„Wir Spieler sollten den Menschen mit Interesse begegnen“
Per Mertesacker über die Vorbildfunktion von Profis
Die Liga der guten Absichten
Stiftungen nutzen den Fußball als Vermittlungsmedium
„Am deutlichsten habe ich Neid im Fußball gespürt“
Dietmar Hopp über den sozialen Einfluss von Mäzenen
Flutlicht im Klassenzimmer
In vielen Stadien wird das Hobby Fußball mit Bildung verknüpft
Meinungsbildner auf Reisen
Der ehemalige Profi Thomas Hitzlsperger stellt sich vielfältig gegen Diskriminierung
„Ich kann Kontakte zwischen Verein und Behörden herstellen“
Ligapräsident Reinhard Rauball über die politische Wirkung von Funktionären
Schutzraum mit Kreidelinien
Wie „Champions ohne Grenzen“ in der Flüchtlingsarbeit Maßstäbe setzen
„Insgesamt müsste die FIFA wesentlich mehr leisten“
Der Aktivist und Unternehmer Jürgen Griesbeck über die Idee für einen kollektiven Sozialfonds
Die Freispielerinnen
„Discover Football“ stärkt die Selbstbestimmung von Frauen aus autoritär regierten Ländern
Klimaverteidiger ohne Gefolgschaft
Der FSV Mainz 05 schont die Umwelt mit einem nachhaltigen Betrieb
„Ich habe dem DFB als Frau auch ein bisschen genützt“
Bundestags-Vizepräsidentin Claudia Roth über die Rolle der Politik im Fußball
Die Zwänge der Fassadenmaler
Die Mehrheit der Medien inszeniert den Fußball als unpolitische Spielwiese
„Es ist besser, die positiven Aspekte von Regeltreue zu betonen“
Sylvia Schenk von Transparency International über ein ausbaufähiges Compliance-System
Die Insel der Stiftenden
Im sozialen Engagement ist die Premier League der Bundesliga um Jahre voraus
Literatur
EINLEITUNG
Relevanz statt Wachstum
Über ein Jahrzehnt hat die Erzählung gut funktioniert. Seit der WM 2006 galt Fußball in Deutschland als Symbol für eine gelungene Integration und einen freundlichen Patriotismus. Das Nationalteam spielte erfolgreich, und die Bundesliga vermeldete Jahr für Jahr einen Rekordumsatz. Im Fernsehen und im Feuilleton, in der Wissenschaft und in den Wohltätigkeitsnetzwerken: Überall war der Fußball ein Auslöser für Projekte und Projektionen. Der Höhepunkt dieser Entwicklung war die gewonnene Weltmeisterschaft 2014. Aus Jubel wurde Hysterie, der Fußball beherrschte die öffentliche Wahrnehmung so sehr wie noch nie.
Bis dahin hatten viele Fans die Skandale des Fußballs als Folklore betrachtet, doch das änderte sich nun. Immer mehr Menschen hinterfragen die Macht der Verbände und die Zweckmäßigkeit globaler Sportereignisse. Bevölkerungen demokratischer Staaten entschieden sich in Referenden gegen die Austragung von Olympischen Spielen. Die FIFA implodierte, der DFB erlebte die schwerste Krise seiner Geschichte. Noch immer ist Fußball der beliebteste Sport, und er wird es auch bleiben. Doch die europäischen Ligen können wirtschaftlich nicht ständig weiter wachsen. Die EM 2016 lieferte Vorzeichen: In Deutschland hatten die Fanmeilen weniger Besucher. Und im Gastgeberland Frankreich blickte man reserviert auf das Turnier. Das Land, gezeichnet von Terror und Wirtschaftskrise, hatte andere Sorgen. Die umstrittenen Weltmeisterschaften 2018 in Russland und 2022 Katar werden dieses Unbehagen verstärken.
Der Fußball als ewiger Glückspender und Wirtschaftsmotor: Diese naive Zuschreibung wird nicht mehr lange funktionieren. Es reicht nicht, die Wettbewerbe mit weiteren Teilnehmern zu vergrößern oder die Reichweite mit neuen Fernsehzeiten zu erweitern. Es ist ungenügend, dass die Deutsche Fußball-Liga die Vereine mit Zuschüssen ermuntert, ferne Märkte zu erschließen. Der Tunnelblick, der sich auf sportliche Helden und Versager richtet, hat sich abgenutzt. Die Überzeichnungsrhetorik von Funktionären wirkt nicht mehr wie smarte Geschäftsmäßigkeit – sie klingt nur noch weltfremd. Und das in Zeiten, in denen sich die Gesellschaften im Umbruch befinden, durch Migration und Wirtschaftskrisen, durch Terrorgefahr und Rechtspopulismus.
Der Fußball braucht eine neue Erzählung – und das Potenzial ist seit Jahren vorhanden. Seit der WM 2006 hat sich in Deutschland ein zivilgesellschaftliches Netz um den Fußball gespannt, das im weltweiten Sport einmalig ist, aber noch immer unterhalb der medialen Wahrnehmungsschwelle liegt. Etwa 90 Stiftungen nutzen den Fußball als Vermittlungsmedium für soziale Themen. Der DFB und die DFL investieren Millionen in ihre Projekte. Die Bundesligaklubs gründen Sozialabteilungen. In den Fankurven sind Dutzende Ultra-Gruppen aktiv, in den Amateurverbänden schauen Ehrenamtliche über den Rasen hinaus. Und auch das Netzwerk an Nichtregierungsorganisationen ist breiter geworden. Der Fußball bildet in der Gesellschaftspolitik einen soliden Zweig. Aber reicht das aus?
Überschwänglich binden Verbände und Vereine die Projekte in ihr Marketing ein, mit Hochglanzbroschüren und gönnerhaften Scheck-Überreichungen. So soll sich der Stadionkunde beim Trikotkauf etwas wohler fühlen. Dieses Buch aber möchte hinter die Fassade blicken und Orientierung geben. Zwischen Hilfsbereitschaft und Heuchelei. Dafür hat der Autor in einem Zeitraum von drei Jahren mehr als 80 Interviews geführt. Im Zentrum der Recherchen standen Menschen, die sich auf beeindruckende Art engagieren: Spieler wie Per Mertesacker, Ehrenamtliche wie Gerd Liesegang oder NGOs wie Discover Football. Einige von ihnen stoßen in ihrem Umfeld auf Widerstände und fühlen sich allein gelassen. Dadurch wird das zentrale Problem offensichtlich: Dem System Fußball fehlt eine ganzheitliche Strategie.
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