Renate setzte sich auf die Liege mit der großkarierten Wolldecke und überlegte: Was habe ich da gerade in ihre Mikrofone gesprochen? Mein Gott, für die Lauscher wird es damit nur noch schwieriger. Jetzt müssen sie ihre Ermittlungen bis nach Afrika ausweiten. Müssen meinen geheimen Kontakten zu irgendeinem Kral im Busch nachgehen. Das dürfte nicht ganz einfach sein. Schließlich habe ich schon fünf, nein sicher sechs Jahre nichts mehr von Lamin gehört. „Gambia“, sagte sie laut und deutlich, um die Lauscher zu ärgern, „Westafrika, südliche Hemisphäre, Erde, Milchstraße links die zweite Hütte.“
Dabei drehte sie an dem Totenkopfring, als wäre er ein Wunschring. Als könnte er den herbeizaubern, der ihn ihr geschenkt hatte. Der kommende Mann von Gambia, der erst der gefürchtete Revoluzzer wird und dann der erste Staatspräsident eines wirklich freien Gambia. „Lamin“, hauchte sie den Namen noch einmal vor sich hin. Leider habe ich in der Zeitung nie was über ihn gelesen. Ist wohl doch nicht politisch aktiv geworden. War also nicht so schlimm, daß das damals in die Brüche ging. – „Ja, das sagt man so. Hinterher ist man immer klüger.“
Als Lamin mir den Ring geschenkt hat, war Anne schon fortgezogen. Nach Westdeutschland. Ausgerechnet nach Bonn. Die juristische Fakultät dort sei viel angesehener als die der FU, hatte sie mir damals noch geschrieben. Dabei wollte sie nur nicht auf die Bequemlichkeit verzichten, bei ihren Eltern zu wohnen. Obwohl die ihr einen noch viel dolleren Tanz gemacht hätten, wenn sie mit einem Farbigen angekommen wäre. Das hat sie selbst zugegeben. Aber daheim im warmen Nest sitzen zu können, sich schön bekochen zu lassen und mit Vati und Mutti einkaufen zu gehen, wenn sie was Neues brauchte, das war ihr mehr wert als ihre Unabhängigkeit. In dem Moment hatte sie schon alles falsch gemacht. „Anne kannst du vergessen.“
Aus was für Verhältnissen die aber auch kam. Der alte Mietzner wollte bauen, wollte endlich was nach seinem Format haben, wie es bei ihm hieß. Nicht mehr in einem gekauften Haus leben müssen, das für andere Leute maßgeschneidert war. Und in Berlin zu bauen, das war überhaupt kein Gedanke. „Wo die Russen rundrum sitzen, wie die Wölfe ums Winterlager.“ Ach, jetzt gehen die Ermittlungen auch noch bis nach Rußland. „Nein, nein, das wollte ich nicht. Das war der olle Mietzner, der das gesagt hat. Nicht ich!“
Sitzen da auf der Terrasse ihres Berliner Hauses. Die beiden Mietzners mit ihrer Tochter. Deren Freundin Renate dabei. Bei Kaffee und Kuchen.
„Bad Godesberg ist goldrichtig“, so Herr Mietzner. „Mildes Klima und Nähe zu den Kreisen, die entscheiden – und Entscheidungen beeinflussen.“ Dabei zwinkert er seiner Frau zu wie ein drittklassiger Provinzschauspieler. „Und die Leute, die da wohnen, diese Westdeutschen, nun ja, mit denen haben wir ohnehin nichts zu tun“, ergänzt seine Frau.
„Natürlich nicht. Das Anwesen, unser Anwesen, das wird so groß bemessen sein, daß die Leute rundum für uns keine Rolle spielen.“
„Und der Betrieb“, wirft der Gast ein, „wird der Betrieb hier einfach zugemacht? So daß die Leute ihre Arbeitsplätze verlieren?“
„Der Betrieb bleibt natürlich in Berlin. Hier produziert es sich viel besser als in Westdeutschland. Hier sitzen doch genug Kümmeltürken herum. Offiziell bleibt sogar die Firmenspitze hier in Berlin. Wegen der Berlin-Präferenzen. In Bad Godesberg wird nur ein Verkaufsbüro eingerichtet. Und dann habe ich vor, dort in der Mittelstandsvereinigung eine Funktion zu übernehmen. Man muß eben da, wo es sich lohnt, initiativ zu werden, entschlossen die Ärmel aufkrempeln und zupacken.“
Eigentlich gar nicht so schlecht, daß ich diesen engen Kontakt zu Anne hatte. Dadurch hatte ich immer eine plastische Vorstellung, wenn von Ausbeutern, Kapitalisten und Bonzen die Rede war. Irgendwie stand immer sofort der alte Mietzner vor mir. Mit seinen Wurstkonserven. Frankfurter Würstchen, wie er das Zeugs frechweg nannte, obwohl es mit Frankfurt nun wirklich nichts zu tun hatte.
Und Anne erzählte mir noch viel mehr als der Alte selbst. Der ja schon Himmelschreiendes genug von sich gab, wenn wir bei ihm saßen und er anfing, der Jugend mal die Augen zu öffnen, wie er das nannte. Nach dem soundsovielten Cognac.
Anne und Renate in Mietzners Haus. „Meine Eltern sind nicht da. Komm, ich zeig dir mal was. So was hast du noch nicht gesehen.“ Und schiebt hebt den Perser an und rollt ihn halb auf und zeigt auf eine Stelle im Parkett.
„Hier, genau hier haben sie die Brettchen vorsichtig gelockert und herausgenommen. Dann haben sie ein versiegeltes Papier mit vielen Unterschriften in das Loch gelegt und die Brettchen wieder eingeklebt. Das war eine Vereinbarung aller deutschen Wurstkonservenhersteller, die in einer langen Nachtsitzung hier im Wohnzimmer zustande gekommen ist. Mein Vater ist da sehr stolz drauf.“
„Und um was ging es dabei?“
„Geheime Preisabsprache“, flüstert Anne. „Und wie geheim. Wenn das Kartellamt dahinterkommen will, dann muß es uns schon das Haus auseinandernehmen.“
„Überhöhte Preise?“
„Na klar.“
„Das heißt, der kleine Mann muß mehr zahlen für sein heißes Würstchen als das Ding wert ist.“
„Ja, ja.“
„Aber das ist doch eine ganz große Schweinerei“, entrüstet Renate sich.
„Klar ist es das. – Aber sie sind doch meine Eltern“, sagt Anne und rollt den Perser wieder ordentlich aus, schiebt den Fernsehsessel wieder an seinen Platz.
Typisches Frühstückskartell, so nannte Frieder das, als ich ihm davon erzählt habe. Einfach fantastisch, wie er immer alles sofort auf den richtigen Begriff bringen konnte. Mir ideologisch haushoch überlegen. Und dabei absolut zuverlässig. Nie hat er Gebrauch gemacht von seinem Wissen um das Versteck unterm Parkett. Mir zuliebe. Ich hatte ihn darum gebeten, weil Anne mich darum gebeten hatte, keinem Menschen etwas davon zu sagen. Weil sie sich zum Schweigen verpflichtet hatte gegenüber ihrem Vater.
Also habe ich ihr zuliebe Frieder zum Schweigen gebracht. Und letztlich Annes Eltern zuliebe. – Liebe, Liebe, Liebe. Und alles nur Betrug. Die kleinen Leute waren die Betrogenen. Sie mußten für diese scheiß Würstchen einen Aufschlag zahlen, der noch über den Mehrwert im Marxschen Sinne hinausging.
Frieder hat das sofort so auf die Formel gebracht. Frieder, – er sitzt jetzt in Stammheim. Und ich sitze hier. Und ich denke an ihn, wie er jetzt an mich denken wird. Ganz sicher denkt er an mich. – Aber vorhin habe ich mehr an Anne gedacht als an ihn. Und davor an Lamin. Von dem Frieder noch gar nichts weiß. Renate sah schuldbewußt auf den Ring mit dem Totenkopf an ihrer Hand. Als er mich gefragt hat, woher ich diesen Ring habe, da habe ich ihn belogen. Von meinen Eltern, habe ich gesagt.
„Lug und Trug, Lug und Trug überall. Einfach zum Kotzen“, stöhnte sie auf. Und dann, weil es nun einmal gesagt war, trotzig hinterher auch noch: „Wer sitzt und wer nicht, das richtet sich nicht nach der Schuld, sondern nur nach dem Geschick. Aber nicht nach dem, was man Schicksal nennt, nein, nach der Geschicklichkeit. – Scheiße alles!“
Nichts Schöneres gab es für mich, erinnerte der Untersuchungshäftling Renate Hobbes sich am nächsten Morgen, als liegenbleiben zu dürfen, wenn Frieder Brötchen holte und das Frühstück machte. Wenigstens für den Morgen war das das Schönste. Und ich habe mir diesen Genuß auch nie als scheißbürgerlich ausreden lassen. Ich brauchte das. Mich dreimal rufenlassen und mich dreimal wieder rumdrehen und endlich im Morgenmantel an den gedeckten Tisch wanken, immer noch so schön schlaftrunken. Daß der Morgenmantel eigentlich ein Bademantel war, für den recht mißglückten Spanienurlaub mit Anne, Erwin und Frank gekauft, was machte das schon aus.
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