1 ...8 9 10 12 13 14 ...22 Nur mit viel Mühe ist es mir damals gelungen, die Wogen wieder zu glätten. Ich wußte ja, aber das habe ich Renate nicht gesagt, daß Erwins Wutausbruch nicht nur dem teuren Farbfilm galt. Das war nur der Anlaß, nicht eigentlich der Grund. Der lag ganz woanders. Aber darüber konnte ich mit Renate nicht sprechen. Übrigens das erste Mal, daß ich etwas nicht mit Renate besprechen konnte. Damit fing sie also an, die allmähliche Entfremdung. Damals ging es im Grunde genommen darum, daß die beiden Doppelzimmer, eins für Renate und mich, eins für Erwin und Frank, ein Problem darstellten. Weil Renate einfach nicht auf die Idee kam, mich mal einen Mittag allein im Zimmer zu lassen, damit Erwin und ich wenigstens stundenweise mal ein gemeinsames Zimmer hätten. Sie brauchte sich ja gar nicht mit Frank zusammenzutun, nur sich mal selbständig auf die Sokken zu machen, das hätte ihr schon einfallen können.
Erwin sagte immer, er brauche mich als sein Kugellager. Und ich fand den Ausdruck irgendwie nett. Doch er blieb die ganzen vierzehn Tage schlecht gelagert und wurde immer verdrießlicher. Ein Reinfall.
Fahr mit, ja, so hieß das Unternehmen, bei dem wir diese Reise gebucht hatten. Unsere einzige gemeinsame Reise. Wir hatten den Namen verlängert zu: Fahr mit, schlaf bei, treib ab. Worüber wir uns köstlich amüsiert haben. Doch Renate kapierte nicht. Schon damals zeigte sich also, daß ein Strandurlaub nicht zu ihr paßt. Kein Wunder, daß er ihr später zum Verhängnis wurde, zog die Richterin – plötzlich ernüchtert – einen Schlußstrich unter ihre Träumereien beim Aktenstudium.
„Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe, – sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe“, sprach Renate Hobbes den Gedichtanfang immer wieder vor sich hin. Während sie in der engen Zelle die paar Schritte hin und her machte, und wieder her und wieder hin. Sie kam weder damit noch damit weit. „Du hättest es doch auswendig lernen sollen. Ein Gedicht im Kopf, das ist ein Besitz, den kann dir keiner nehmen“, begann sie die tägliche Unterhaltung mit sich selbst. „So oft wie ich das mit dem Besitz von Anne gehört habe. Aber auch das Gedicht vom Vorübergehn. Anne war ja wie versessen auf Gedichte. Manchmal habe ich gedacht: Anne ernährt sich hauptsächlich von Gedichten. Und wurde davon rund und speckig. Und den Männern, diesen blöden Kerlen gefiel das auch noch. – Während ich nun immer dünner werde, immer schlaffer.“
Sie wußte noch: Rilke. Und sie nahm sich vor, als nächstes einmal einen Band Rilke-Gedichte aus der Gefängnisbibliothek auszuleihen. „Die knurren zwar schon und meinen, ich hätte bald mehr Bücher in meiner Zelle als sie noch im Depot stehen haben.“
Vor dem kleinen Bücherregal blieb sie stehen. Und wie sie es fest in den Blick nahm, von ganz nah, da wurde ihr klar, daß sie alles drumherum plötzlich ausgesperrt hatte. Außerhalb des Blickwinkels und damit nicht mehr da, all das, was ihr kleines Studierzimmer zur Gefängniszelle machte. „Wie ein Adventskalender, so ein Regal voller Bücher. Lauter Fenster und Türen, die ich nur aufzumachen brauche. – Ach ja, jetzt ist bald wieder Adventszeit.“
Doch so wie sie einzelne Buchrücken in den Blick nahm, einzelne Titel las, war der vorweihnachtliche Hochstimmungsanfall schon wieder verflogen. Analyse der... und Kritische Theorie, Bericht zur..., Erhebung über... „Und am Ende dann hier“, sagte sie. Und erschrak selbst vor ihrer Stimme. Mit diesem Grabeston. Sie trat einen Schritt zurück vom Bücherregal, und sofort stürzte sich das ganze Drumherum an Tristesse in ihren Blick, in ihr Bewußtsein.
Vielleicht hätte ich Gedichte lesen sollen statt Analysen. Da fällt mir ein, wir haben einmal richtig gestritten über dieses Thema. Damals, als wir noch gemeinsam an der FU studierten, als aber schon klar war, daß Anne mit ihren Eltern abhauen würde, als schon so was Trennendes zwischen uns getreten war. Auch schon räumlich bedingt. Die Juristen hatten ihre Vorlesungen und Seminare im Hauptgebäude draußen in Dahlem, wir Soziologen waren in der Innenstadt in angemieteten Räumen untergebracht. Wieso überhaupt diese Differenzierung? Aber dadurch haben wir uns immer seltener gesehen.
„Analyse unserer Wirklichkeit ist das, was wir brauchen“, hatte ich aufgetrumpft, „und keine Schöngeisterei. Denn damit wird nichts besser.“ Was mir selbst übertrieben vorkam in dieser Absolutheit. Ich hatte ja selbst bis dahin Romane und Erzählungen gelesen, soviel ich nur konnte. Bücher, das waren für mich Erfahrungen, die man sich anfressen kann – und die nicht mal dick machen. Ich fand den Ausdruck schön. Aber Anne hatte viel zu grundsätzlich Gegenposition bezogen, hatte sich auf den Standpunkt gestellt, nur die reine Dichtung habe Geltung. „Ein Gedicht, das ist die Analyse der Wirklichkeit überhaupt.“ Oder so ähnlich klang das. „Von deinen Sach- und Fach-Analysen unterscheidet die dichterische Analyse sich nur dadurch, daß sie sorgfältiger erarbeitet, tiefer erforscht und besser dargestellt ist – falls das Gedicht gut ist.“
Warum hatte mich das nur so geärgert? Ich wußte doch, das war typisch Anne. Wenn einer etwas zu einseitig darstellte, dann hielt sie sofort mit gewaltigen Gegengewichten dagegen. Dann stellte sie die andere Seite genauso übertrieben dar, obwohl sie in Wahrheit die Sache überhaupt nicht so einseitig sah. Eigentlich versuchte sie immer, beiden Seiten gerecht zu werden. Das war so ein angeborenes Harmoniebedürfnis. Im täglichen Umgang ja ganz angenehm. Aber das mit der besseren Analyse, das war damals, als ob wieder einer ankäme und mir die Füße wegträte. Wie früher, im Winter auf dem vereisten Schulhof. Daß es einen plötzlich hinwirft. Wo man ohnehin kaum richtig gehen und stehen konnte. Das war die Spezialität von diesem dicken Rothaarigen, dem jüngeren Bruder von Klaus. Ein Widerling, wie er dann dastand und sich schüttelte vor Lachen. Seinen Namen weiß ich nicht mehr. Geschieht ihm ganz recht. Der Knabe hat mich auch nie interessiert. Das Abitur hat er nicht geschafft, habe ich noch irgendwann gehört, sonst nichts mehr.
Und Anne? Was kann aus der geworden sein? Die sitzt wohl als Juristin bei einer Versicherung und liest am Abend Rilke. Zum Ausgleich, wie sie sagen wird. Wenn sie sich nicht mit drei Bälgern herumschlagen muß, ihnen aus dem Struwwelpeter vorlesen und ihrem Mann, dem Juniorpartner in der väterlichen Klitsche, die Socken stopfen.
Der Arm wurde ihr schwer vom endlosen Haareum-den-Finger-Drehen. Sie nahm die Hand herunter und sah den schmalen Ring mit dem Totenkopf. „Lamin, wo bist du jetzt““, hörte sie wieder ihre erschreckend dumpfe Stimme. „Du bist längst heim, bist wieder in deinem Gambia, und machst Karriere.“ Wenn ich ihn gehalten hätte, wäre alles ganz anders gelaufen. Das war ein Kopf. Das mußte selbst Anne zugeben. Und sie hätte ihn auch gern gehabt. Aber sie hat keinen Versuch gemacht, ihn mir wegzunehmen, das muß man ihr lassen. Obwohl er ihr genauso gefiel wie mir. Einer der kommenden Männer von Gambia, darüber waren wir uns einig. Aber ich, ich hatte ihn kennengelernt, im Seminar. Und wir verstanden uns auf Anhieb.
Dieser Aufstand zuhause, als ich Lamin meinen Eltern vorstellte. Hinterher natürlich erst, so feige waren sie. Ihm erst freundlich die Hand geben und Kaffee einschenken und hat mich gefreut und so. Und dann nachher: „Ein Neger, Kind, was fällt dir denn ein? Als ob es nicht genug ordentliche deutsche Männer gäbe. Aber du, du mußt einen aus dem Busch ranschleppen. Willst dich wohl zur Negermutti machen lassen, wie? Der hat dann noch fünf andere Negermammis neben dir in seinem Kral. Mit so einem kommst du uns nicht noch einmal ins Haus, verstanden. Du bist die Tochter eines deutschen Staatsbeamten. Und dazu, – was sollen denn die Nachbarn denken.“
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