Zum Glück war es noch so früh gewesen, daß ich fast meine normale Farbe zurück hatte, daß die Wunde nicht mehr blutete und daß der Duft fast ganz verflogen war, als ich in der Schule ankam. Die zehn Kilometer auf dem Fahrrad hatten auch mitgeholfen, die übermäßige Wirkung des Deos zu tilgen, aber das alles hatte dann nicht das geringste erreicht.
Aus irgendeinem Grund kam Agathe ein wenig zu spät, und für einen wilden, erwartungsvollen Augenblick war ich davon überzeugt, daß mein Glück gemacht war, denn es gab nur noch einen leeren Platz – und zwar neben mir. Normalerweise saß ich ja neben Thomas, aber er und Anne – vielleicht vor allem Anne – hatten beschlossen, daß sie in diesem Jahr zusammensitzen wollten.
Agathe kam mit ihrer leeren Tasche in der Hand in die Klasse und durchschaute die Lage auf einen Blick. Sie blieb bei der Tür stehen und sah Palle, unseren Klassenlehrer, an.
»Wo soll ich sitzen?« fragte sie, und ihre Stimme zitterte leicht. »Tja, die große Auswahl hast du ja nicht mehr«, antwortete Palle. »Du wirst dich wohl mit Claus zufriedengeben müssen.«
»Neben dem soll ich sitzen?«
Das hörte sich an, als ob ich Frankensteins Monster wäre oder an Aussatz oder Beulenpest litte. Ich konnte irgendwo hinter mir Mini kichern hören.
»Ja, warum nicht? Jetzt setz dich schon, Agathe«, sagte Palle. Agathe blieb stehen. Ihr Gesicht war rot und ihre Stimme ein bißchen schrill, als sie fragte: »Können Claus und Anne nicht die Plätze tauschen?«
»Warum sollten wir?« meinte Anne. »Stell dich doch nicht so an, Agathe.«
Hört, hört! sagte ich zu mir selber.
»Kann ich denn keinen Einzeltisch haben? Es muß doch ein paar Einzeltische geben!«
Es war peinlich. Jeder konnte merken, daß sie mich haßte und daß sie total wütend war, weil sie neben mir sitzen sollte. Alle meine Träume und Luftschlösser zerfielen zu Staub. Keine Chance! »Jetzt setz dich erst mal dahin!« meinte Palle genervt. »Nach eurem Info-Wochenende können wir ja sehen, ob eine Umplazierung nötig ist. Claus frißt dich doch nicht.«
Sie mußte nachgeben, aber gutwillig tat sie es bestimmt nicht. Sie kam mit zusammengepreßten Lippen zu meinem Tisch und setzte sich so weit von mir weg wie möglich, ohne mich eines Blickes zu würdigen.
An den folgenden Tagen sagte sie »hallo«, wenn ich »hallo« sagte, und weitere Bemerkungen fielen nicht zwischen uns. Ach, war das schön!
Aber ich hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Ich vertraute auf das Info-Wochenende. Ich weiß nicht, welches Wunder ich erwartet hatte – jedenfalls passierte keins. Ich hatte Agathe am Samstagabend dreimal zum Tanzen aufgefordert, und jedesmal hatte sie mit einer blödsinnigen Entschuldigung abgewunken. Erst mußte sie aufs Klo, dann wollte sie lieber austrinken, und schließlich hatte sie sich den Fuß verknackst. So ein Quatsch!
Aber das war ihre Sache, sagte ich mir. Es gab zum Glück noch andere Frauen auf der Welt, sie sollte sich bloß nicht einbilden, sie wäre etwas Besonderes. Das Problem war bloß, daß sie es für mich eben doch war.
Ich saß versunken in meinen düsteren Gedanken an Hannahs Frühstückstisch, als Mini plötzlich rief:
»Attention, mes amis! Jetzt kommen die Lehrer!«
»Und dabei war es gerade so lustig«, seufzte Thomas. »Aber okay, send in the clowns!«
Ein unterdrücktes Kichern wanderte um den Tisch, und wir alle sahen uns unwillkürlich nach den Lehrern um, die langsam über den immer noch taunassen Rasen auf uns zutrotteten.
»Hetty bläst sich ja richtig auf«, sagte Mini. »Die hat bestimmt ein Ei gelegt.«
»Warum habt ihr sie überhaupt eingeladen?« fragte Thomas. »Sie ist doch einfach gräßlich.«
»Sie hat es selber angeboten«, erklärte Lisbeth. »Und wir konnten doch nicht einfach nein sagen.«
»Warum nicht?« fragte Thomas.
»Sie ist ja immerhin unsere Mathelehrerin.«
»Ja, Gott soll uns schützen!« sagte Thomas. »Aber daß ihr das das Recht gibt, zu unserem Info-Wochenende mitzukommen, kann ich einfach nicht einsehen. So viel Mathe haben wir nun auch wieder nicht.«
»Habt ihr sie gestern abend gehört?« kicherte Lisbeth. »Als wir am Becken saßen und Wein tranken und fetzige Rockmusik gehört haben, da hat sie plötzlich gefragt: ›Habt ihr den Mond gesehen? Der steht jetzt über der Ekliptik.‹ Oder darunter. Oder wo immer der nun gestanden hat. Was sagt ihr dazu?«
»Typisch!« antwortete Mini. »In Hetty gibt es nicht mehr Sinn für Romantik, als Honig in einer Kröte ist.«
»Psssst!« fiel Anne ihm ins Wort. »Die können dich hören!«
Wir verstummten allesamt, und deshalb herrschte ein peinliches Schweigen, als die Lehrer am Tisch ankamen.
»Ach, was seht ihr frisch aus«, gackerte Hetty, auf ihre übliche, überdrehte Wir-sind-ja-alle-eine-große-Familie-Tour.
»Saugut gesagt, Hetty!« rief Mini überschwenglich. »Hast du das die ganze Nacht geübt?«
So redet er immer mit ihr, freundlich-ironisch, und die Alte rafft nicht, daß er sie bloß verarschen will.
Wir nutzten die Gelegenheit, um unser unterdrücktes Lachen loszuwerden, und prusteten ungeniert los, während Hetty sich verwirrt umsah, ohne zu begreifen, was denn nun so witzig sein sollte. »Wir sind frisch«, erklärte Lisbeth. »Wir haben schon gebadet, während ihr euren Rausch ausschlafen mußtet.«
Gut gebrüllt, Lisbeth! Denn die Lehrer hatten sich durchaus nicht zurückgehalten; sie hatten alle drei auch ganz schön gebechert. »Du kannst hier sitzen«, sagte Fotto in seiner Gemeinheit und erhob sich galant für Hetty. »Ich glaube, ich geh’ noch eine Runde an der Matratze horchen, bis der Bus kommt. Ich hab’ die ganze Nacht kein Auge zugemacht.«
Das war auf alle Fälle eine fette Lüge.
»Du siehst auch ganz schön mitgenommen aus«, sagte Palle, als er sich setzte.
»Mitgenommen! Das ist nicht das richtige Wort, ich bin tot! Es ist ein mieser Witz, daß ich hier stehe. Ich bin überhaupt ein mieser Witz«, endete Fotto theatralisch und fuchtelte mit seinen Pinguinpfoten.
»Aber so schlimm kann das doch gar nicht sein«, tröstete ihn Hetty mit ihrem verständnisvollsten Lächeln.
»Schlimm! Viel schlimmer. Frag bloß meinen Vater. Das sagt der schon seit meiner Geburt.«
Das konnte sogar stimmen. Fottos Mutter war siebenundvierzig, als sie ihn bekamen, und ich glaube, beide Eltern fanden den Witz etwas daneben.
»Erzähl mir nix von Vätern!« rief Lisbeth. »Die sind ja wohl so ungefähr das Übelste, was es gibt. Mich kribbelt’s am ganzen Körper, wenn meiner anfangt zu predigen, und das tut er andauernd. Er ist so stockkonservativ, daß man es einfach nicht glauben will. Ich meine, der Mann ist doch Arzt, aber er glaubt wirklich immer noch, daß der Pastor die kleinen Kinder zusammen mit dem Trauschein bringt.«
Mich interessierte diese ganze Debatte im Augenblick nicht die Bohne, aber über Väter im allgemeinen war ich mit den übrigen am Tisch durchaus einer Meinung.
»Meiner ist einfach ein Waschlappen«, sagte Thomas mit freundlicher Nachsicht.
Das hätte der Regalfabrikant hören sollen, dachte ich. Aber es war etwas dran. Jedenfalls war es Thomas’ Mutter, die in dieser Ehe das Zepter schwang.
»Ich bin überzeugt, ihr übertreibt«, protestierte Hetty. »Irgendwer von euch muß doch auch etwas Positives über Väter zu sagen haben.« Ihre glubschigen Pekinesenaugen wandelten suchend um den Tisch, aber niemand sagte etwas. Das Schweigen wurde so peinlich, daß sie mir fast leid tat.
»Ja«, sagte ich deshalb. »Ich.«
»Na, das hab’ ich mir doch gedacht!« Hetty lächelte erleichtert und sah mich auffordernd an, während ich langsam den letzten Bissen zerkaute. Dann schluckte ich und sagte laut und deutlich: »Meiner ist tot.«
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