Er kommt nicht weiter.
»Du solltest lieber deinen Mund halten.« Nannas Schwiegermutter hat sich über den Tisch vorgebeugt. Ihre flache Hand landet auf der Tischplatte, ein Glas kippt um und verspritzt seinen goldfarbenen Inhalt auf der Tischdecke, das Porzellan klirrt wie auf einem Schiff, das auf Grund gelaufen ist. Ihr Gesicht ist leichenblaß, eine perlmuttweiße Kontur zeichnet sich um die zusammengekniffenen Lippen ab. »Du solltest an diesem Tisch lieber nicht von Treue und Loyalität reden.«
»Mutter.« Yanns Stimme, beherrscht. »Pélinore ist mein Freund, also laß ihn singen, wenn er möchte.«
Er legt seine Hand auf die seiner Mutter, tätschelt sie beruhigend. Pélinore hat die Hände in einer abwehrenden Geste ausgestreckt.
»Sie wird mir erst verzeihen, wenn ich tot bin«, murmelt er. Dann dreht er der Gesellschaft den Rücken zu, strebt mit lautlosen Schritten und gebeugtem Rücken dem Ausgang zu, ein Hund, der Prügel bekommen hat.
Ein Stuhl schrammt über den Boden. Mette ist aufgesprungen, legt ihre zusammengeknüllte Serviette auf die Decke.
»Entschuldigt mich.«
Das Geräusch von Mettes Pfennigabsätzen, die zwischen den leeren Tischen auf dem Boden klappern, hallen unter der hohen Decke wider.
Nannas Schläfen pochen, ihr Mund ist trocken. Ein Gefühl, das sie ihr ganzes Leben lang nie hat zulassen wollen, breitet sich in ihr aus, von den Fußsohlen bis zu den heißen Wangen, die vor Wut zittern. Bevor sie nachdenken kann, hat sie schon den Mund geöffnet.
» Mère . Schwiegermutter.« Sie zügelt ihre Nervosität, hat Yanns Hand unter dem Tisch wiedergefunden. »Was ist das, was kannst du ihm nicht verzeihen? Ich denke, du schuldest uns eine Erklärung.«
Sie fühlt Mémés Hand auf ihrem Arm.
»Nicht jetzt.« Mémé hat sich ihrer Schwiegertochter zugewandt.
»Marie-Jeanne, wenn man so alt ist wie ich, dann weiß man, daß die Zeit knapp ist.«
Die kleine, feste Hand, die kurzen Finger, die den Glasstiel umfassen. Nanna sieht sie nur durch Tränen. Sie sieht das Gesicht ihrer Schwiegermutter, auf dem die Wut von einem Schmerz abgelöst wird, der sie an eine Frauenfigur in einem Museum vor langer Zeit erinnert, sie sieht die Ritter an, die dunklen Flächen in Yves’ Gesicht, voller Trauer, von der er selbst nichts wahrhaben will, Benoîts häßliche Güte.
»Ab heute ist Nanna auch mein Kind, laß sie auch deins werden. Laß uns sie willkommen heißen.«
Mémé hebt ihr Glas.
» À l’amour «, sagt sie und leert es. »Und jetzt zum Dessert.«
Yanns warmer Atem streift ihre Wange. Viele Stunden lang haben sie wach gelegen, dicht umschlungen in dem schmalen Bett, wortlos, als wollten sie nicht ein neidisches Schicksal herausfordern. Die drohende Trennung hat ihre Lust in Zärtlichkeit verwandelt, allein das Wissen, daß ihr Glück so zerbrechlich ist, macht ihre Zärtlichkeiten noch behutsamer. Jetzt ist Yann endlich eingeschlafen, mit dem Kopf an ihrer Schulter, in dem dunklen Zimmer hoch oben unter dem Mansardendach des Hotels, das war die Höhle seiner Kindheit, voll mit Erinnerungen und Gerüchen, an denen sie bis jetzt noch nicht teilnehmen konnte.
Dieses Zimmer soll ihr privater Raum werden, bis das Kind geboren und Yann zurückgekommen ist.
Das Kind, dessen geheimnisvolle Anwesenheit in ihrem Körper sie erahnen kann, jetzt wo sie ganz still liegt. Ein kleiner Wellenschlag, kaum wahrnehmbar, wie die Gezeiten, die sich verändern, läßt sie in der Dunkelheit lächeln.
Lebensstark fühlt sie sich in dieser Zeit, trotz der leichten Übelkeit und Schläfrigkeit, die sie überfällt, wenn sie am wenigsten damit rechnet. Stark genug, die Wartezeit zu ertragen, hartnäckig genug, sich einen Platz im Haus der Schwiegermutter zu erobern, sich nützlich zu machen, davon ist sie überzeugt. Sie kuschelt sich an Yanns warmen Körper, wird von seinem ruhigen Atem in den Schlaf gewiegt.
Etwas, das wie das weinerliche Piepsen eines Kindes klingt, weckt sie früh am nächsten Morgen. Der Platz neben ihr im Bett ist leer. Panik durchfährt sie, sie tastet nach dem Lichtschalter, aber bevor sie ihn findet, erkennt sie Yanns Rücken vor dem Fenster. Er hat die Fensterläden zur Seite geschoben, und der blaßgoldene Schein des Morgenhimmels dringt zusammen mit dem sonderbaren Laut klagender Instrumente herein.
Yann dreht sich zu ihr um.
»Sie haben es trotzdem gemacht.«
Sein Gesicht strahlt in dem schwachen Licht.
Minuten später sitzen sie zusammen mit den Rittern auf der Hafenmauer. Die Musik der altmodischen Blasinstrumente steigt und fällt, la bombarde führt, das Jammern des Dudelsacks folgt ihr auf dem Fuße, ein Geräusch von etwas, das weder Mensch noch Tier ist, wird zwischen den Hafengebäuden in die stille Luft geworfen. Die Flut ist gekommen, ihre Wellen schlagen gegen die Steine der Mole, das Echo eines fernen Stroms. Ein halb gesunkenes Boot zerrt in einiger Entfernung an seiner Vertäuung.
Eine Gestalt überquert die Hafenpromenade, leicht auf den hohen Absätzen schwankend. Mettes Kleid glüht in den roten Strahlen der Sonne, die sich über eine Wolkenbank am Horizont hinüberkämpft. Sie springt auf die Mauer neben Nanna, schleudert die Schuhe von den Füßen. Nanna ergreift ihre Hand.
»Wo bist du geblieben?«
Mette zuckt mit den Schultern.
»Irgend jemand mußte den Mann ja trösten.«
Die Musik ist verklungen. Yann ist aufgestanden, umarmt die beiden Ritter. Die niedrigstehende Sonne verziert die kleine Gruppe mit einem Glorienschein, Benoîts Haar leuchtet wie eine Fackel.
»Er war zusammen mit Yanns Vater in der Widerstandsgruppe.« Mettes Gesicht unter dem glänzenden Pony sieht außergewöhnlich ernst aus. »Er war der einzige, der überlebt hat.«
Etwas läßt ihre türkisfarbenen Augen dunkler erscheinen, eine Mischung aus Kummer und Trotz.
»Warst du mit ihm im Bett?«
»Ach, dazu brauchte es nicht viel.«
»Ich begreife nicht, wie du das machen kannst.«
»Die Freibeuter müssen zusammenhalten.« Mette streckt sich, gähnt, daß Nanna ihre makellosen Zähne sehen kann. Wieder einmal hat sie die Situation voll im Griff, ist entspannt, sicher. »Das mußt du auch nicht verstehen.«
Sie läßt sich von der Mauer hinuntergleiten, steht auf Strümpfen vor Nanna, von einem Loch auf dem Knie läuft eine Laufmasche bis zum Kleidersaum hoch. Dann schlingt sie ihre Arme um Nanna, drückt sie fest an sich.
»Werde glücklich«, sagt sie. »Das ist deine verdammte Pflicht und Schuldigkeit.«
Guiffelec, den 10. Oktober 1961
Lieber Vater!
Gestern haben Yann und ich geheiratet. Ich habe mich selbst gefragt, ob ich mir gewünscht hätte, daß Du hier gewesen wärst, und ich bin zu dem Schluß gekommen, daß es wohl so am besten ist, wie es ist.
Yann ist der beste Mensch, den ich je kennengelernt habe. Dir würde er bestimmt nicht gefallen, er ist für Deinen Geschmack viel zu weich. Aber jetzt ist er mein Mann, und im Frühling kommt unser Kind. Das wird ein anderes Leben, als Du und ich es uns vorgestellt haben.
Es tut mir leid, daß ich abgereist bin, ohne mich zu verabschieden und ohne zu versuchen, etwas zu erklären. Aber ich wollte Dir nicht gegenübersitzen und mich von Deinen »klugen« Worten niedermachen lassen. Ich hatte Angst, daß ich mich überreden oder einschüchtern lassen würde, Yann fallenzulassen, schließlich bin ich es gewohnt, das zu tun, was ich Deiner Meinung nach wirklich will.
Ich habe immer geglaubt, Du und ich, wir würden uns lieben, so wie Vater und Tochter. Erst jetzt begreife ich, daß wir einander Steine statt Brot gegeben haben. Liebe ist etwas ganz anderes.
Ich mag Dich, Vater. Es fällt mir schwer, Dich schwach und krank zu sehen, und ich habe ein schlechtes Gewissen, daß ich Dir weh tue. Ich bitte Dich nicht um Dein Verständnis, denn ich glaube nicht, daß Du mich verstehen kannst, selbst wenn Du es willst. Ich möchte nur, daß Du akzeptierst, daß die Dinge sind, wie sie nun einmal sind.
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