Nanna nimmt einen Schluck von ihrem Sherry, trifft Vaters Blick über den Glasrand.
»Ich wollte dich eigentlich etwas fragen«, sagt sie und merkt, wie sie unter Vaters Blick aus dem Konzept kommt.
»Und was?« Vaters graue Augen haben plötzlich den alten Stahlschimmer. Diesem Blick hat sie nie etwas verbergen können.
Jetzt gebe ich klein bei, dieser Gedanke durchzuckt Nanna, ich krieche wie ein Hund.
»Ich möchte so gern zurück nach Paris«, sagt sie und hört, wie ihre Stimme einen kindlichen Ton annimmt, sie erschaudert vor Ekel über die Rolle, in die sie widerstandslos hineinrutscht, aber jetzt ist das zumindest gesagt.
Vater stellt sein leeres Glas auf den Tisch.
»Ach ja?« sagt er. Nanna erkennt den kühlen Klang wieder aus der Zeit, als sie ihm zuhörte, wie er in einem Gerichtssaal Prozesse führte.
»Ich könnte mich dort auf mein Studium vorbereiten.«
Sie horcht selbst dieser Lüge nach, wundert sich, daß sie ihr so leichtfällt. Früher hätte sie gleich aufgegeben, hätte viel zuviel Angst gehabt, entlarvt zu werden, um auch nur einen Versuch zu starten.
»Welches Studium?«
»Ich dachte, ich könnte Vorlesungen in internationalem Recht besuchen.« Nanna hört, daß sie atemlos ist, und sie wünscht, sie könnte sich selbst stoppen, fährt aber unter Vaters unerbittlichem Blick fort. »Du hast doch selbst gesagt, daß das immer wichtiger wird.«
»Gibt es einen besonderen Grund dafür, daß das in Paris vor sich gehen soll?«
Der Schweiß erscheint auf Nannas Oberlippe. Ich sollte jetzt einfach aufstehen, denkt sie. Mich von diesem Sofa erheben, auf dem ich während meiner ganzen Kindheit jeden Nachmittag gesessen und Tee mit der Frau getrunken habe, die du geliebt hast und die mich nicht liebte, aufstehen und mich für die Gastfreundschaft bedanken, es war sehr nett, aber jetzt muß ich leider gehen. Mich für mein bisheriges Leben bedanken, aber jetzt muß ich leider weiter.
Statt dessen sagt sie:
»Ich möchte auch gern mein Französisch verbessern.«
»Und das hat nicht zufällig etwas mit einem gewissen jungen Mann zu tun? Bodil«, Vater nickt in Richtung Küche, »hat mir erzählt, daß es so aussieht, als wärest du ernsthaft verliebt.«
Vaters letztes Wort ist von ironischen Anführungszeichen eingekleidet.
»Nicht nur deshalb.«
Sie hat schon zuviel gesagt. Vaters Stirn legt sich in sarkastische Falten, sie kennt das nur zu gut.
»Ach, das ist nicht nur deshalb? Na, das ist ja beruhigend zu hören. Ich hätte auch einige Probleme damit, dich mir als Hotelmadame irgendwo weit draußen auf dem Kuhland vorzustellen.«
Niemand kann Nanna so treffend verletzen wie ihr Vater. Niemand konnte wie er mit einer genau abgewogenen Bemerkung diejenigen ihrer Freunde abschieben, die er aus irgendeinem Grund als unpassend ansah. Eine hochgezogene Augenbraue, ein Zungenschnalzen, und einer nach dem anderen wurde auf seinen Platz verwiesen, von der Liste der Menschen gestrichen, die der Mühe wert waren, sich mit ihnen zu beschäftigen.
Sie mag gar nicht daran denken, wie er auf Yann reagieren würde, dessen warme Hände und ernste Augen in jeder Sekunde des Tages bei ihr sind, in all ihren Träumen, den wachen wie denen im Schlaf. Sie zieht ihre Schultern bis zu den Ohren hoch und hofft, daß Vater seine Genugtuung haben wird, wenn sie den Kampf nicht aufnimmt.
»Bestimmt ist er auch noch katholisch?« Vater macht weiter, seine physische Schwäche macht es notwendiger denn je, daß seine verbalen Treffer exakt einschlagen. »Und plant im Namen des Herrn eine ganze Kinderschar?«
»Er geht nicht in die Kirche«, flüstert Nanna in ihre Bluse hinein und bereut sofort, daß sie überhaupt den Mund geöffnet hat.
»Folgt aber den Regeln des Papstes, ist es das, was du damit sagen willst?«
Eine Träne tropft von Nannas Nasenspitze, wird auf dem hellblauen Popeline ihrer Hemdbluse zu einem dunklen Fleck.
»Vielleicht sollte ich dankbar sein, daß das Unglück nicht schon geschehen ist«, sagt Vater.
Er sieht sonderbar gut gelaunt aus, das Müde, Eingefallene ist etwas Zielgerichtetem gewichen, etwas, das zu seiner alter Streitbarkeit gehört, immer gleich elegant, immer gleich gefürchtet von Freunden wie von Feinden.
Nanna ist dankbar, als die füllige Figur der Stiefmutter in der Tür zum Eßzimmer auftaucht.
»Ist etwas nicht in Ordnung?« Die braunen Augen der Stiefmutter leuchten neugierig beim Anblick von Nanna, die sich die Augen mit dem Handrücken trockenwischt. »Das Essen kann noch warten, wenn ihr gerade in einer Diskussion seid.«
»Sind wir in einer Diskussion, Nanna?« Vater ist bereits halb aufgestanden. Er nimmt sein Glas vom Tisch und wedelt damit vor den Augen der Stiefmutter. »Nur einen Fingerbreit«, sagt er. »Dafür verzichte ich gern auf die Madeirasoße.«
Nanna ist aufgestanden, sie steht hinter dem Sofa, ihre Beine zittern, als wäre sie hinter einem Bus hergelaufen und hätte ihn nicht mehr erreicht.
»In unserer Familie können wir auf die Soße verzichten, wenn wir es müssen.« Vater hat sein Glas abgestellt, schiebt seiner Tochter einen Arm unter den Ellbogen. »Stimmt’s, Nanna?«
Das Tomatengelee zittert auf dem Silberteller in der Hand der Stiefmutter.
»Ich habe eine Vorspeise gemacht, das bist du doch gewohnt, oder? Ich erinnere mich noch, als wir in Paris waren, da haben wir immer eine Vorspeise gekriegt, nicht wahr, Poul?«
Die Stiefmutter klingt etwas kurzatmig. Genau wie Nanna ist sie ständig auf der Hut, um die wechselnden Launen des Vaters mitzubekommen, jetzt versucht sie intuitiv, die kleine Gesellschaft aus einer möglichen Mißstimmung herauszureden.
Nanna nimmt ihre Serviette aus dem Serviettenring und legt sie sich auf den Schoß, gießt sich Limonade ins Glas, erleichtert, daß sie nichts sagen muß.
»Es gibt Schollenfilet mit Mayonnaise«, fährt die Stiefmutter fort, »einmal die Woche kommt ein Fischwagen, ansonsten sind die frischen Sachen hier draußen etwas problematisch, der Schlachter hat nur Schwein auf hunderterlei Arten, um ein ordentliches Steak zu kriegen, mußt du in die Stadt fahren.«
Nanna schielt zu ihrem Vater hinüber, der sich von der Platte nimmt. Sein Gesicht sieht beunruhigend freundlich aus, über irgend etwas amüsiert er sich königlich.
»Eigentlich dürften wir gar keine Mayonnaise essen, jedenfalls ich nicht, und dein Vater auch nicht, aber so ein kleiner Klecks kann ja wohl nicht schaden.«
»Ein kleiner Klecks mehr oder weniger macht auch keinen Unterschied mehr«, sagt Vater und schiebt einen großen Löffel voll Mayonnaise mit einem demonstrativ schnalzenden Geräusch von der Platte auf den Teller seiner Frau.
»Siebzig Kilo Kampfgewicht, in der Klasse bist du jetzt wohl, nicht wahr, Bodil?«
Ein roter Fleck breitet sich vom Hals der Stiefmutter hinunter auf ihre Brust unter der weißen, bestickten Bluse aus. Nanna nimmt die Platte aus ihren Händen in Empfang, sieht, wie es um ihren Mund zuckt. Sie schiebt sich einen kleinen Löffel voll von der zitternden roten Masse auf den Teller, nimmt eine Scheibe Weißbrot aus dem Korb auf dem Tisch.
Eine Zeitlang ist das Geräusch von Vaters kauenden Kiefern das einzige, was die Stille in dem Eßzimmer stört.
Nanna probiert vorsichtig das Gelee. Es hat einen starken Beigeschmack nach Metall und Konservendose, die Konsistenz ist zäh wie geschmolzenes Gummi, und die Übelkeit überwältigt sie. Sie legt die Gabel auf den Teller und greift nach ihrem Glas, trinkt in gierigen Schlucken von der süßen Orangenlimonade, aber auch das wird zuviel, und sie muß aufstehen, murmelt eine Entschuldigung und läuft hinaus. Sie schafft es gerade noch bis zum Badezimmer, bevor sie sich übergeben muß, sie kämpft nicht mehr dagegen an, setzt sich auf den Badewannenrand und läßt die gallenfarbene Flüssigkeit in den Waschbeckenablauf rinnen.
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