Nanna fühlt sich wie eine Fremde in der ländlichen Umgebung. Das Haus ihrer Kindheit existiert nicht mehr, es wurde zusammen mit der Anwaltspraxis nach Vaters drittem Herzinfarkt veräußert. Hier in diesem Haus hat sie nie gelebt. Das letzte Gymnasiumsjahr hat sie in einem Internat verbracht, in dem sie kaum ihre Klassenkameraden kennenlernen konnte, in der kurzen Zeit bis zu den Examensprüfungen.
Jetzt sitzt sie hier in der finsteren Provinz, auf einem geblümten, etwas abgenutzten Kaminsofa, und schaut ihre Stiefmutter über den Rand der Kaffeetasse an.
Die Stiefmutter atmet mühsam, als sie sich vors Feuer kniet und mit dem Schürhaken die Glut schürt, ihr fehlt die Geschicklichkeit, sie versprüht nur Funken, ohne daß das Feuer richtig fängt. Sie hat in den letzten Monaten einiges zugenommen, wie Nanna sehen kann, ihr Hinterteil wölbt sich kürbisartig unter dem engen Rock, das kann nicht in Vaters Sinne sein, er haßt dicke Frauen. Nannas lange, schlanke Figur hat sie von der Mutter geerbt, die sie nie kennengelernt hat und die Vater in allen möglichen Zusammenhängen hervorhebt, ohne daran zu denken, daß er damit seine Frau verletzt.
»Ich kann es versuchen.«
Nanna nimmt der Stiefmutter den Schürhaken aus der Hand. Sie schubst vorsichtig die glühenden Holzstücke beiseite, schiebt ein wenig Rinde dazwischen und läßt so das Feuer wieder aufflackern. Sie kniet mit ausgebreiteten Armen vor dem Kamin, die Fahrradfahrt im Septemberregen vor dem Essen, um auf dem nächsten Hof frische Eier zu holen, sitzt ihr immer noch in den Knochen, eine feuchte Kälte.
Nanna spürt den Blick der Stiefmutter, als sie aufsteht. Auch wenn sie weiß, daß ihr bis jetzt unmöglich etwas anzusehen ist, fühlt sie sich ertappt. Nanna hat keinen Zweifel, daß die Stiefmutter ihr keine Hilfe sein wird bei dem, was ihr bevorsteht. Ihr Vater konnte schon immer seine beiden Frauen vorzüglich gegeneinander ausspielen.
Sie kriecht in die Sofaecke und streckt sich nach ihrer Tasse, schüttelt sich ein wenig. Außerhalb des warmen Halbkreises vor dem Kamin ist die Luft kühl, ihre Nasenspitze ist kalt wie eine Hundeschnauze.
»Dieser Yann, von dem du erzählt hast«, sagt die Stiefmutter und greift nach der Kaffeekanne. Nanna kann hören, wie sie sich anstrengt, ihre Stimme leicht klingen zu lassen. »... heißt er wirklich so?«
»Jean heißt er auf französisch«, erklärt sie neutral. »Yann ist bretonisch . Das ist eine ganz andere Sprache«, fährt sie fort, erleichtert, über ein Thema reden zu können, von dem die Stiefmutter garantiert nichts weiß. Sich einen Moment überlegen fühlen dürfen, akademische Rauchschwaden über den forschenden Frauenblick der Stiefmutter legen zu dürfen. Man kann viel von Nannas mürrischer Stiefmutter behaupten, die eine Vergangenheit als Arzthelferin bei ihrem ersten Mann hinter sich hat, aber an Intuition fehlt es ihr nicht.
»Wie groß ist das Hotel, das er besitzt?« Zunächst läßt die Stiefmutter ein Stück Würfelzucker in ihre blaugeblümte Kaffeetasse fallen, dann, nach einigen Sekunden des Zögerns, noch eins.
»Ziemlich groß«, antwortet Nanna ungenau. Ihr kommt der Gedanke, daß die Stiefmutter vielleicht die Aufgabe übertragen bekommen hat, herauszufinden, ob Yann eine akzeptable Partie ist. Sie versucht sich Vaters Blick auf dem massiven weißgekalkten Gebäude vorzustellen, auf der Bar mit den Spielautomaten, in der die Fischer am späten Nachmittag an dem glänzenden Tresen hängen, wenn das Hochwasser sie und ihre Boote sicher an Land gebracht hat.
»Ziemlich groß«, wiederholt sie und leert ihre Kaffeetasse mit einem Schaudern. Der Geschmack von Kaffee beginnt bei ihr Übelkeit zu erregen, aber sie traut sich nicht, ihn stehenzulassen und dadurch das Mißtrauen der Stiefmutter zu erwecken. Wenn es nicht sowieso schon geweckt wurde.
»Dein Vater denkt oft an dich.«
Die Stiefmutter rührt umständlich in ihrer Tasse, den Blick dabei auf die Flammen im Kamin fixiert. Es scheint, als suche sie nach einem Weg, die Informationen aus Nanna herauszukitzeln, ohne daß diese es bemerkt. Nanna bekommt das unangenehme Gefühl, daß ihr Tun und Lassen ein viel häufigeres Gesprächsthema zwischen ihrem Vater und seiner Frau ist, als sie angenommen hat.
»Ich denke auch oft an ihn«, sagt sie, um weiteren diesbezüglichen Äußerungen zuvorzukommen. »Ist das nicht etwas zuviel für ihn mit dem Hund? Der ist doch so wild.«
»Aber das ist doch alles, was er hat.«
»Nun ja, er hat doch immer noch dich.«
»Auf mich ist er meistens nur wütend.« Die Stiefmutter seufzt. »Er ist so froh, daß du wieder zu Hause bist.«
Etwas in ihrem Ton läßt Nanna aufhorchen. Sie drückt das Kissen in ihrem Rücken zurecht.
»Mmmm«, sagt sie nur, um Zeit zu gewinnen.
»Bei unserem Kaufmann haben sie erzählt, daß sie in der Schule hier eine Vertretung brauchen«, fährt die Stiefmutter fort. »Du fängst mit dem Studium doch sowieso nicht vor dem Januar an, oder? Und es wäre so schön für deinen Vater, wenn er mehr mit dir reden könnte.«
Ein Gefühl der Panik steigt in Nanna auf. Sie sieht sich selbst, gefangen in ihrer Sofaecke, ein Tier in der Falle, gebunden an Händen und Füßen durch Rücksicht und Erziehung, brav und unproblematisch wie immer.
Wenn nicht das geschehen wäre, was sie nicht mehr lange wird verbergen können, hätte sie wohl kaum die Kraft, sich freizukämpfen, hätte es sicher nicht einmal gewünscht. Aber jetzt ist sie dazu gezwungen.
Sie denkt an den Brief, der unterwegs ist, irgendwo in Europa. An einen kleinen blauen Brief mit einer großen Neuigkeit.
Eine Kröte mußte ihr Leben lassen, bevor der Brief abgeschickt werden konnte. Eine Kröte – oder war es ein Frosch – bekam durch Nannas Urin angeschwollene Eierstöcke, eine Laborassistentin las in ihren Eingeweiden wie ein Augur, und Nanna schrieb mit klopfendem Herzen ihren Jubelbrief und schmuggelte ihn in die Tasche des Landbriefträgers, ohne daß die Stiefmutter es sah.
In ein paar Tagen wird Yann in der Sonne vor dem Gebäude der Truppenbetreuung in der Kaserne in Marseille stehen und den Umschlag mit ungeduldigen Fingern aufreißen.
»Nun ja, du bist hier jedenfalls jederzeit willkommen«, sagt die Stiefmutter, und das klingt, als erwarte sie eine Antwort.
»Mmm.« Nanna zögert. Man kann nie wissen, was aus ihren Worten in der Version der Stiefmutter wird. »Paris ist ja auch eine Möglichkeit«, sagt sie vorsichtig. »Wenn ich nicht arbeiten muß, könnte ich mich auf mein Studium konzentrieren. Ich könnte mir ein Zimmer nehmen, das muß gar nicht so teuer sein.«
Die Zeit ausdehnen. Konfrontationen vermeiden. Darum herumkommen, etwas zu erzählen, bevor Yann und sie alles geregelt haben.
»Dein Vater kann dir ja nie etwas abschlagen.« Plötzlich klingt die Stiefmutter verbittert. »Das Internat hat ein ganzes Jahr lang unseren Etat bis aufs äußerste strapaziert.«
»Aber ihr habt das Haus hier kaufen können.«
Die Kleinlichkeit der Stiefmutter hat sie schon immer peinlich berührt. Sogar in den Jahren, als die Anwaltspraxis des Vaters blühte und das Geld reichlich hereinfloß, konnte sie am Eßtisch sitzen und sich lang und breit darüber auslassen, wieviel der Wurstaufschnitt gekostet hatte.
Die Stiefmutter schnaubt leise.
»Ja, leider Gottes«, sagt sie, und Nanna sieht aus den Augenwinkeln, daß ihr rundes Gesicht, in dem die aufgerissenen braunen Augen unter den hellen Ponylocken eine große Ähnlichkeit mit einem verwöhnten Pudel heraufbeschwören, sich zu einer feindlichen Miene verzieht.
Ein Holzscheit ist durchgebrannt und fällt mit einem zischenden Laut auf den Kaminboden zusammen.
Nanna steht auf und stellt die Tassen zusammen.
»Ich werde selbst mit Vater darüber reden«, sagt sie.
Die altmodischen Kopfsteine auf dem Hofplatz zwischen dem Haus und dem kleinen Stallgebäude zeigen immer noch feuchte Flecken, auch wenn der Regen inzwischen aufgehört hat. Die großen Kastanien hängen voll mit den stacheligen Früchten, die noch fest an den Zweigen sitzen, und die fingrigen Blätter haben noch ihre dunkelgrüne Sommerfarbe.
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