Als das überstanden ist, ist sie in Schweiß gebadet, und ihr Herz hämmert im Brustkasten. Sie öffnet die Tür vorsichtig einen Spalt weit. Aus dem Eßzimmer hört sie die Stimme des Vaters, es ist gar nicht daran zu denken, zu der Szene drinnen zurückzukehren. Statt dessen schleicht sie so lautlos sie kann über den Teppichboden des Flurs, die Treppe hinauf in ihr Zimmer. Sie legt sich aufs Bett, diesmal sogar, ohne die Schuhe auszuziehen, versucht, ihre Gedanken zu ordnen.
Vielleicht ist ja schon alles zu spät, vielleicht haben sie es erraten. Voller Panik sucht sie nach einer Strategie, um die Situation in den Griff zu bekommen, aber sie findet keine, schlägt sich mit einer verzweifelten Faust gegen die Stirn, versucht einen rettenden Gedanken hervorzuzwingen. Aber nichts fällt ihr ein.
Schritte auf der Treppe, jemand nähert sich ihrer Tür.
»Darf ich reinkommen?«
Die Stiefmutter hat die Tür einen Spalt weit geöffnet. Nanna setzt sich auf, flicht ihren Zopf neu, der sich aus der Spange gelöst hat, will die Füße auf den Boden stellen.
»Bleib nur liegen.«
Die Stiefmutter läßt sich schwer auf die Bettkante fallen, ergreift Nannas Hand.
»Meine kleine Nanna.«
Der plötzliche Ausbruch von Zärtlichkeit kommt so unerwartet, daß Nanna spürt, wie ihr die Tränen in den Augen brennen. Sie dreht ihren Kopf weg, will der Stiefmutter nicht ihre Schwäche zeigen. Seit ihrer Kindheit hat jeder sich abzeichnende Konflikt damit geendet, daß die Stiefmutter Vaters Partei ergriffen hat, und Nanna wagt nicht darauf zu vertrauen, daß es jetzt anders sein könnte.
»Wenn du ein Problem hast, kannst du es uns doch erzählen.« Die Stiefmutter macht ihre Stimme sanft, sie streichelt Nannas Hand, unkonzentriert, als würde sie ein Schoßhündchen streicheln. »Dein Vater und ich wollen dir doch nur helfen.«
Ein Problem. Das Wort trifft Nanna wie ein Schlag. Ihr Kind mit Yann ist kein Problem, das ist ein Geschenk, das Gott oder wer auch immer ihr zu geben beschlossen hat, das Beste, das ihr in ihrem kurzen Leben bisher bereitet wurde.
»Ich habe kein Problem«, murmelt sie. Ihre Hand liegt schlaff auf der Bettdecke, sie gehört ihr nicht mehr, und die Stiefmutter streichelt sie weiterhin, mechanisch.
»Es ist sicher nicht so einfach, darüber zu reden«, murmelt sie. »Aber wenn es sich so verhält, wie ich glaube, dann gibt es auch eine Lösung. Dein Vater und ich, wir haben Verbindungen«, fügt sie hinzu und beendet den Satz mit einem leisen, bedeutungsvollen Schnaufen.
In dem Moment trifft Nanna einen Entschluß. In einem Haus, in dem derartige Gedanken gedacht werden, kann sie nicht bleiben. Sie zieht die Hand zu sich heran, richtet sich im Bett auf, sieht die Stiefmutter direkt an, sie ist Yseut, la femme soleil , stolz, diese zu sein.
»Ich habe kein Problem«, sagt sie kalt zu den Pudelaugen. »Und jetzt möchte ich gern meine Ruhe haben.«
Die selbstleuchtenden Zeiger auf Nannas Reisewecker zerteilen die Scheibe in zwei Hälften, als sie in dem dunklen Zimmer aus dem Bett klettert. Hinter dem Rollo läuft die Nässe die Scheiben hinunter. Eine Regenböe braust draußen vorbei, der Wind schüttelt die Blätter der Kastanie. Eine der stacheligen Hüllen hat sich losgerissen, ist beim Aufprall auf die Hofsteine aufgeplatzt, so daß die glatte, braune Haut des Samens frei daliegt.
So lautlos wie möglich sammelt sie ihre Sachen zusammen. Sie packt das Allernotwendigste in den kleinsten der weißen Koffer, öffnet vorsichtig die Tür zum Treppenhaus. Aus dem Schlafzimmer hört sie Vaters leises Schnarchen, sie schleicht sich die Treppen hinunter, in die Küche. Hier stopft sie sich ein Stück Brot in den Mund, gießt sich ein Glas Milch aus der Kanne im Kühlschrank ein. Sie braucht Kraftreserven, denn die Reise wird lang werden.
In der Kaminstube kommt ihr der Hund entgegen, schwanzwedelnd und leise bellend. Sie mahnt ihn zur Ruhe, streichelt sein warmes, glänzendes Fell. Dann schließt sie vorsichtig die Gartentür hinter sich und geht, ohne sich umzusehen, die Platten des Gartenpfads entlang.
Unten an der Landstraße stülpt sie sich die Kapuze ihres Mantels über, stellt den Koffer auf den Asphalt. Auf den Telefonleitungen über ihrem Kopf hat sich eine Schar von Staren versammelt, flattert mit zerzausten Flügeln im Morgenwind. Sie dreht ihr Gesicht den Regenböen zu, spürt die kühle Feuchtigkeit auf der Haut. Keine einzige Träne vermischt sich mit dem Regen, sie fühlt sich innerlich ganz ruhig, sicher in ihrer Entscheidung.
Ein paar Minuten später hört sie, daß der Bus kommt, er legt den Hügel hinauf einen anderen Gang ein. Nur wenige Augenblicke später sitzt sie hinter den beschlagenen Scheiben, zwischen schläfrigen Schulkindern und Männern in feuchten Mänteln.
Sie ist auf dem Weg.
Nanna wacht an ihrem Hochzeitsmorgen früh auf, bleibt liegen und lauscht der steigenden Flut.
Zunächst ist da der leicht rauschende Ton, wie Wind in einem Kornfeld, dann das Blubbern Tausender kleiner unterirdischer Töpfe, deren Inhalt überkocht und sich in eine schäumende Strömung verwandelt.
Yann hat die Nacht in seinem Jungenzimmer in der Wohnung der Mutter im obersten Stockwerk des Hotels verbracht. Beide hatten sich nicht getraut, auf etwas anderem zu bestehen. Die Schwiegermutter hat, vor das Unabwendbare gestellt, eine Strategie der notwendigen Schritte eingeschlagen und die Situation mit der Effektivität eines Generals organisiert. Obwohl sie unter der beherrschten Fassade fast durchsichtig vor Müdigkeit ist, läßt ihre Ausstrahlung keinerlei Diskussion zu.
Die Geräusche des nachtschwarzen Morgens dringen durch die Fensterläden. Die schweren Stiefel der Fischer auf dem Zement der Molen, die kurzen Rufe, wenn die Taue gegen die Decksplanken schlagen. Das Tuckern der Boote auf dem Weg aus dem Hafen bringt Nanna wieder zur Ruhe, das leise Klirren von Porzellan auf einem Tablett dringt in ihren Schlaf ein, das sachte Klopfen des Stubenmädchens und die Schritte, die auf dem Läufer im Flur wieder verschwinden.
Sie trinkt den warmen Kakao in kleinen Schlucken, ißt ein wenig vom Brot. Die Übelkeit, die sie jeden Morgen seit ihrer Ankunft auf die Knie vor dem Porzellanbecken des Bidets gezwungen hat, macht heute eine Pause.
Der Kachelboden unter der Dusche am Ende des Flurs ist trocken. Die Sommersaison ist beendet, die Fischgroßhändler und die wenigen Vertreter, die durch diesen Teil des Landes kommen, verschwinden am Wochenende. Sie läßt das Wasser fließen, bis der kleine Raum voller Dampf ist, bleibt unter dem heißen Strahl stehen, bis das nervöse Zittern ihres Körpers sich in eine schwere Ermattung verwandelt hat.
Die Trauung soll um halb zwölf im Büro des Bürgermeisters stattfinden. Sämtliche Papiere sind vorbereitet, Benoît und Yves als Trauzeugen geladen. Ein verhaltener Streit zwischen Yann und seiner Mutter während des Essens gestern hat zu einem Telefongespräch mit Yanns altem Musiklehrer geführt. Neben der Großmutter und den beiden Rittern wird er der einzige Gast sein.
Eine Hochzeit ist hier in der Gegend ein öffentliches Ereignis, das weiß sie von Yann, ein Ereignis, das tagelang dauern kann und Umzüge und Musikanten beinhaltet, wie Yann und die Ritter mit ihren alten Instrumenten, dazu Unmengen von Essen, Tanz die ganze Nacht hindurch. Etwas, über das man spricht, vorher und hinterher.
Ihre und Yanns Hochzeit wird wie Schmuggelware dazwischengeschoben.
Nanna hat die Fensterläden aufgestoßen, sie steht in ihrem dünnen Unterrock in der kühlen Luft des offenen Fensters und schaut aufs Meer hinaus. Der Hafengrund sieht fast trocken aus, ein paar flache Pfützen zwischen den Algenbüscheln spiegeln den emailleblauen Himmel wider. Einige kleinere Boote sind auf die Seite gekippt – schlafende Kettenhunde in lockeren Verankerungen auf dem dunklen Sand, bedeckt mit Schaumklecksen. Ein paar Möwen streiten sich um die Beute, sie kippen wie Jagdflugzeuge zur Seite und stürzen sich senkrecht auf ihre zappelnden, silbern glänzenden Opfer.
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