Nanna steht am Dachbodenfenster und schaut zu ihrem Vater hinunter, der sich nach seiner Mittagsruhe wieder angezogen hat. Jetzt steht er mitten auf dem Hofplatz und ruft dem ungestümen Hund zu, dem er mit großer Mühe und der Hilfe der Stiefmutter Halsband und Leine anlegen konnte.
Nanna ist vor dem scharfen Ton, der zwischen den Eheleuten herrscht, in das Zimmer geflüchtet, das als das ihre bezeichnet wird, das ihr jedoch ein starkes Gefühl der Peinlichkeit gibt mit all seinen Erinnerungen an die Teenagerjahre in ihrem alten Zimmer. Stapel von rosa Kissen auf ihrem Jungmädchenbett, der kleine weiße Schminktisch, die Christel-Zeichnungen auf den geblümten Tapetenwänden – das alles gehört zu einer anderen, sehr viel kindlicheren Person.
Unten auf den runden Steinen macht der Hund übermütige Sprünge um die in Gummistiefeln steckenden Beine ihres Vaters, wirft ihn vor lauter kläffendem Eifer fast um. Sein glänzendes Fell funkelt in der Nachmittagssonne kastanienbraun.
»Sitz!«
Vater zieht kurz an der Hundeleine. Das Tier läßt sich für einen Moment stoppen, wirft sich dann jedoch in einem Bogen nach hinten, landet vor den Füßen des Vaters auf dem Boden und wedelt frohgelaunt, wobei ihm die Zunge aus der Schnauze hängt.
»Sitz! Sitz!«
Der Hund stupst ihn mit der Schnauze, wirft sich gegen sein Bein, zieht und zerrt an der Leine. Vater müht sich ab, das Hinterteil des Hundes auf den Boden zu bekommen, aber der große Welpe leistet energischen Widerstand, windet sich unter seinen Händen, daß der Mann fast hinfällt.
Nannas Vater ist es gewohnt, Macht über die Dinge zu haben, sein herrisches Wesen hat den Rahmen ihres Daseins abgesteckt, solange sie denken kann. Jetzt wird sie verlegen, weil sie mit ansehen muß, wie er einem Tier gegenüber machtlos ist. Einem lebhaften Welpen, der nur dazu da zu sein scheint, um Vaters Gebrechlichkeit zu zeigen. Sie tritt einen Schritt vom Fenster zurück, hat Angst, Vater könnte entdecken, daß er beobachtet wird.
Da sieht sie plötzlich die Peitsche in Vaters Hand. Sie hat die Hundepeitsche am Haken in der Halle hängen sehen und sich an die vielen Male erinnert, bei denen sie sich als Kind die Finger in die Ohren steckte, wenn Vater seine Jagdhunde bestrafte. Nie hat sie die Notwendigkeit der Peitschenschläge in Frage gestellt, ebensowenig wie alles andere, was ihr bewunderter Vater tat. So dressiert man halt Hunde, hatte er erklärt, und damals hatte sie genickt und geschwiegen und ihre Ohren vor dem Schmerzgejaul der Hunde verschlossen. Jetzt spürt sie eine unbekannte Wut in sich aufsteigen. Sie will ihrem Vater zurufen, daß der Hund doch nur jung und fröhlich ist und keine Strafe verdient, doch sie bleibt stumm hinter der Scheibe stehen.
Vater hebt den Arm ein ums andere Mal, läßt die Peitsche herabsausen. Seine gebeugte Gestalt in der dicken Tweedjacke verliert vor ihren Augen die Proportionen, wird zu einem drohenden Schatten vor der gekalkten Wand des Stalls. Nanna hört das erschrockene Aufheulen des Hundes, der jetzt auf dem Boden entlangkriecht, verängstigt und gedemütigt, und sie wünschte, er würde sich losreißen und Vater beißen, der weiter zuschlägt, daß die Peitsche durch die Luft zischt.
»Poul!«
Die Stimme der Stiefmutter. Nanna sieht die dicke Gestalt über das Kopfsteinpflaster auf viel zu hohen Absätzen trippeln und Vaters Arm, der herabsinkt, ein mechanisches Spielzeug, dessen Feder langsam ausschwingt.
»Misch dich da nicht ein.«
Nanna kann hören, daß er kaum die Worte herausbekommt, er keucht vor Erschöpfung und Erregung. Der Hund ist auf die Beine gekommen, zieht an der Leine, daß er fast das Gleichgewicht verliert.
»Du kannst das doch nicht ertragen.«
Die Stiefmutter hat ihren Kopf schräg geneigt, streckt die Arme in einer flehenden Geste aus. Die Taktik aller Frauen, wenn es um Vater geht. Bitten und demütig hoffen, daß er sich herablassen wird, ihnen das zu geben, was sie wünschen.
Die Taktik aller Frauen, einschließlich ihrer selbst.
Nanna schließt die Augen, um diese peinliche Szene nicht mit ansehen zu müssen, um nicht daran denken zu müssen, daß sie in ein paar Stunden, ein paar Tagen, gezwungen sein wird, selbst den Vater anzuflehen, ihr die Erlaubnis zu geben, das zu tun, was sie tun muß. Als sie die Augen wieder öffnet, ist ihr Vater auf dem Weg ins Haus, wobei er sich schwer auf die Schulter der Stiefmutter stützt. Nanna kann hören, daß die Stiefmutter leise mit ihm spricht, aber die Worte zerreißt der Wind. Die Peitsche hängt schlaff in seiner Hand.
Auf dem Weg die breite Steintreppe hinauf bleibt er plötzlich stehen, guckt zu Nannas Fenster hinauf. Eine Sekunde lang treffen sich ihre Blicke.
Das werde ich büßen müssen. Der Gedanke kommt ihr, ohne daß sie es will, und sie schiebt ihn schnell wieder beiseite, peinlich berührt über die eigenen Gedanken. Sie hebt die Hand zu einem Gruß, aber der Vater dreht seinen Kopf weg, steigt mit schweren Schritten die Treppe hinauf, geht ins Haus. Der Hund folgt ihm auf dem Fuße, er hat die Schläge bereits vergessen und wedelt fröhlich mit dem Schwanz, bereit für ein neues Spiel.
»Ein kleines Glas Sherry?«
Vater füllt Nannas Glas mit der hellgelben Flüssigkeit aus der geschliffenen Karaffe, die er aus dem Barschrank geholt hat. Sich selbst schenkt er einen Fingerbreit Whisky ein.
»Aber sag ihr nichts.« Er winkt mit seinem Glas, zwinkert Nanna zu.
Nanna erwidert sein Lächeln.
Vielleicht hat ihr Vater beschlossen, lieber zu verdrängen, daß sie die Szene mit dem Hund mit angesehen hat. Wenn sie dadurch gewissen Repressalien entgeht, spielt sie gern die Rolle, die ihr Vater ihr zuweist: die Verbündete gegenüber der immerwährenden Bevormundung durch die Stiefmutter. Sie kann mit jedem Tag besser mit den Rollen umgehen. Ob das gut oder schlecht ist, weiß sie nicht, sie weiß nur, daß es notwendig ist.
Zögerlich nippt sie an dem knochentrockenen Sherry, unsicher, wie ihre veränderten Geschmacksnerven reagieren werden. Aber zum Glück schmeckt der Sherry, wie er schmecken soll.
»Einige Frauen können keine Krankheiten ertragen. Physische Schwäche macht sie gluckig«, fährt Vater in dem munteren Konversationston fort, den er in Gesellschaft gern anwendet, »vor allem solche, die keine Kinder haben.«
»Aber das ist doch nur Fürsorge.« Vorsichtig schlägt Nanna einen nachsichtigen Ton an. Eine gewisse Verteidigung der Stiefmutter gehört in ihr gewohntes Muster. Eine allzu offensichtliche Verachtung kann nach hinten losgehen, das weiß sie aus Erfahrung.
»Du solltest sie nur hören.« Vater gluckst wie eine Henne, äfft die Stimme der Stiefmutter nach, ihren charakteristischen leicht fettigen, belegten Klang. »Poul, du darfst keine Butter essen, nein, auch nicht auf den Brötchen, sieh doch, hier, diese herrliche Diätmargarine, sieh doch, Poulchen, ich esse sie auch, hm, richtig lecker.«
Nanna kann nicht anders, sie muß lachen. Vaters Nachahmung der Stiefmutter trifft präzise und bösartig.
»Pst, da kommt sie.« Vater hat sich vor den Kamin gestellt, das Whiskyglas auf dem Rücken. Die klappernden Absätze der Stiefmutter nähern sich über das Parkett des Eßzimmers, kurz darauf steht sie in der Tür. Nanna unterdrückt ein Kichern, setzt eine neutrale Miene auf.
»Kann ich bei irgend etwas helfen?« fragt sie höflich, aber die Stiefmutter schüttelt den Kopf.
»Ich wollte nur ein bißchen Madeira für die Soße holen«, erklärt sie, »Doktor Schmidt hat das Rezept erlaubt«, fügt sie hinzu und winkt verkrampft schelmisch mit der grünen Flasche. »Macht ihr es euch nur gemütlich.«
Als die Stiefmutter wieder verschwunden ist, verzieht Vater das Gesicht.
»Kannst du dir vorstellen, daß es nur mit uns beiden manchmal reichlich anstrengend ist?« Er hebt sein Glas. »Es wird schön, wenn du wieder zu Hause bist.«
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