Die Kirchturmuhr auf der anderen Seite des Hafens schlägt elf. Versteckt hinter der dünnen Gardine sieht sie, wie Yann in das Auto seiner Mutter steigt und über die Hafenbrücke fährt. In seinem dunklen Anzug und dem weißen Hemd sieht er eher aus, als würde er an einem Begräbnis teilnehmen, trotzdem erzeugt sein Anblick einen Glücksschauer in ihr.
In einer Stunde wird die einfache Zeremonie beim Bürgermeister überstanden sein. Sie wird der Welt nach den einsamen Wochen mit der Schwiegermutter wieder begegnen können, nachdem sie so tapfer auf Yanns kurzen Hochzeitsurlaub gewartet hat. In einer Stunde dürfen es alle wissen, das, was sie und Yann schon lange wissen. Die Flucht ist vorbei. Ihr neues Leben kann beginnen.
Das kleine Städtchen summt vor Gerüchten. Mit ornithologischer Neugier wird sie von den Männern beobachtet, die ihre Tage auf dem Meer mit einem Glas in der zum Hotel gehörenden Bar beschließen. Frauenaugen verfolgen sie hinter jeder Fensterscheibe, wenn sie durch die Straßen geht. Sie bemüht sich, denjenigen höflich zuzulächeln, denen es nicht gelingt, schnell genug den Blick abzuwenden. Hier ist ihre neue Heimat. Was immer auch geschieht. Was es auch kosten möge.
Nanna schließt das Fenster, dreht sich zum Zimmer um. Ihr Kleid liegt auf dem Bett, sie läßt es über den Kopf gleiten, spürt, wie sie bei der Berührung mit dem kühlen Seidenfutter eine Gänsehaut bekommt. Ihre unsicheren Finger kämpfen mit der Knopfreihe auf dem Rücken, klein und glatt wie Apfelsinenkerne.
Yanns Mutter hat das Kleid bei ihrer Schneiderin nähen lassen, und Nanna wurde auf einen Körper reduziert, in einem etwas zu eng sitzenden Unterrock, stumm und unbeholfen vor dem Spiegel des Ankleidezimmers, unter dem prüfenden Blick der Schwiegermutter. Aber das Kleid steht ihr. Der aquamarinblaue Wollstoff gleicht der Farbe ihrer Augen, läßt ihre Haut weniger blaß erscheinen. Der Schnitt verdeckt fast vollkommen die wachsende Wölbung ihres Bauchs.
Schlimmstenfalls muß sie halt den Blumenstrauß davor halten. Der Blumenstrauß. Ihr fällt ein, daß sie nicht weiß, wie hier der Brauch ist, und sie hat niemanden, den sie fragen könnte. Vielleicht heiratet sie ja ohne Brautstrauß. Wie sie auch ohne Kirchenlieder und Schleier heiratet, ohne Rituale und Feier.
Ohne ihren Vater.
In der Traumwelt ihrer Kindheit war er im Grunde die Hauptperson, wenn sie an seinem Arm über den Kirchenboden schritt, in knisterndem Taft, in ölschwerem Duchesse, mit Schleier und Schleppe und Orgelbrausen, einer Gestalt entgegen, die immer ohne Gesicht war.
Jetzt ist es Yanns Gesicht, das sie am liebsten von allen sehen will. Ihr Vater weiß nicht einmal, daß sie im Begriff steht, sich zu verheiraten. Sie versucht ihr schlechtes Gewissen bei dem Gedanken an seine graue Kraftlosigkeit abzuschütteln, während sie die kleinen Perlen an ihren Ohrläppchen festschraubt, sich vor dem Spiegel dreht und wendet.
Ein Auto hält unter dem Fenster. Nanna nimmt die zum Kleid gehörende Jacke von der Stuhllehne und macht sich bereit zu gehen. Da erkennt sie zwischen dem Klappen der Autotüren eine vertraute Stimme, jemand ruft etwas in gebrochenem Französisch, explodiert vor Lachen.
Die Jacke landet auf dem Boden. In drei Sätzen ist sie am Fenster, reißt es wieder auf.
»Mette!«
Das dreieckige Gesicht mit den Lachgrübchen, die kaum zu bändigende Haarpracht. Die Augen verengt vor Lachen.
»Ach, da bist du.« Mette stopft dem kopfschüttelnden Taxifahrer ein paar Geldscheine in die Hand, hebt etwas hoch, das aussieht wie ein Seesack. »Ich brauche nur noch was aus dem Kofferraum. Fragile! Nun passen Sie doch auf, Mann!«
Mette schimpft mit dem Fahrer, der ihr zwei weiße Schachteln, eine kleine und eine große, in die ausgestreckten Arme legt. Sie dreht den Kopf wieder zu Nanna hoch.
»Und wie komme ich zu dir rauf?«
»Die Treppe rechts.«
Die Schachteln werden vorsichtig aufs Bett gelegt, der Seesack in eine Ecke geschmissen. Mettes Arme um ihren Hals.
»Das ist phantastisch.«
Dänische Worte in ihrem Mund, zum erstenmal seit Wochen, die Beine werden ihr vor Schock und überwältigender Freude weich.
»Vater hat das Geld für ein Flugticket ausgespuckt, als ich ihm gedroht habe, sonst zu trampen.« Mette geht einen Schritt zurück auf dem abgetretenen Teppichboden, mustert sie mit dem Blick eines Pferdehändlers.
»Das Kleid ist hübsch. Aber du solltest lieber den Strauß vor den Bauch halten.«
»Es ist nicht gesagt, daß ich einen Strauß haben werde.«
»Sicherheitshalber habe ich einen mitgebracht. Man weiß ja nie bei den Franzosen.«
Maiglöckchen füllen eine der weißen Schachteln. Nanna vergräbt ihre Nase in ihrem Duft.
»Du bist total verrückt.«
»Wenn Yann dir einen Strauß schenkt, kannst du diesen einfach in die Vase stopfen. Wo ist er eigentlich?«
»Er holt seine Großmutter ab.«
»Was glaubst du, ob sie heute auch ihre Haube aufhat?«
»Die hat sie immer auf.«
Seit sie vor dem Haus ihres Vaters in den Bus gestiegen ist, hat sie weder gelacht noch geweint, jetzt tut sie beides gleichzeitig.
»Entschuldige, daß ich heulen muß.«
» Be my guest. «
Mette hat den Seesack mitten ins Zimmer gezogen, müht sich fluchend mit den festen Knoten ab. Nanna sinkt auf die Bettkante, holt aus der Nachttischschublade ein Taschentuch heraus.
Schritte auf dem Korridor bleiben vor der Tür stehen. Ein kurzes Klopfen, und Yanns hohe Gestalt füllt den Türrahmen aus.
Einen Moment lang starrt er wie hypnotisiert auf Mettes dunkles Haar, das Lächeln auf seinem Gesicht verwandelt sich in eine Fratze aus Ungläubigkeit und Schrecken.
»Yann«, Nanna ist aufgestanden. »Mette ist zu unserer Hochzeit gekommen. Mette, von der ich dir erzählt habe.«
Sie geht zu ihm, nimmt ihn beim Arm, hört, wie er tief Luft holt, ein Mensch, der einer Katastrophe entgangen ist.
Schweißperlen glänzen auf seiner Stirn.
»Ich dachte, du wärst jemand anders.« Er zwingt sich zu einem Lächeln, reicht Mette die Hand. »Herzlich willkommen.«
»Was dachtest du, wer sie wäre?«
Yann schüttelt den Kopf. Seine Augen gucken immer noch mißtrauisch, sie haben eine Veränderung im Zimmer wahrgenommen, als stünde dort jemand an Nannas Stelle.
»Ich muß Bescheid sagen, daß für eine Person mehr gedeckt werden soll«, sagt er und versucht seiner Stimme einen geschäftsmäßigen Klang zu geben. »Hier sind deine Blumen.«
»Was war denn los?« Mette schaut zur Tür, die hinter Yann zuklappt. Die gute Laune ist verschwunden, sie läßt die Arme hängen. »Ist er sauer, weil ich gekommen bin?«
»Er ist bestimmt nur nervös.«
Sie hat keine Lust, Mette von Martine zu erzählen, nicht an ihrem Hochzeitstag.
Die Schachtel mit den Maiglöckchen ist vom Bett gerutscht, der weiße Strauß liegt auf dem dunklen Teppich, ein zerbrochener Schneeball. Nanna schaut auf die blaßlila Orchideen in ihrer Hand. Ihre wachsartige Kühle gibt ihr ein Gefühl der Konturlosigkeit, macht sie verletzlicher, als sie sowieso schon ist.
»Die passen gut zum Kleid.« Mette zeigt auf die Blumen. »Er ist nicht nur groß und gutaussehend, er hat auch noch Geschmack.«
»Ich nehme an, daß meine Schwiegermutter sie ausgesucht hat. Ich möchte lieber deine nehmen.«
»Bist du wahnsinnig? Vor Schwiegermüttern muß man sich in acht nehmen.«
Nanna seufzt.
»Wenn du dich noch umziehen willst, solltest du dich jetzt beeilen.«
»Wenn ich mich noch umziehen will?« Mette ist bereits aus Pullover und der grauen Steghose gesprungen, knotet das Band der größeren weißen Schachtel auf. »Du hast doch hoffentlich einen neuen Slip an? Und deine Ohrringe, die sind wohl uralt, oder?«
Nanna nickt. Die Lähmung von eben ist vorüber, sie läßt ihre eigene Unruhe von Mettes wiedergefundener Energie wegfegen.
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