Die kleine Ilse wartete im Wagen. Sie sass stillvergnügt und liess sich von der Sonne bescheinen, froh, die Lerchen zu hören, statt der Vokabeln der Mademoiselle Roger. Als sie wieder mit ihrem Vater durch den weiten Rhinower Forst fuhr, frug der plötzlich mit erstickter Stimme: „Kind, kannst du das Vaterunser?“
„Natürlich, Papa!“
„Bitte ... bet es einmal!“
Die Kleine war verwundert. Aber sie faltete die mageren Kinderfinger und fing an: „Unser Vater, der du bist im Himmel ...“ Und Kaspar von der Zültz krampfte die Hände ineinander und schaute vor sich nieder und bewegte kaum die Lippen, bis es in dem Frühlingswind verklang: „Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit! Amen!“ Eine wilde Angst zog ihm das Herz zusammen. Nein. Umsonst. Da rührte sich nichts Rechtes. Da war kein Glaube. Keine Hoffnung. So rasch holte man das in zwölfter Stunde nicht nach ...
„Zültz!“ schrie eine heisere Stimme vom Grabenrand. „Zültz! ... ’Morjen, oller Schwede! ... ’Morjen, Ilseken! ... Na — wo führt Sie denn der Deibel her?“
Ein kleiner runder Herr stand da, im Jagdanzug, die Flinte in der Hand, das Hütchen über dem krebsroten Kopf bis in den Stiernacken zurückgeschoben, einen Zwicker auf der scharfgebogenen Nase, unter der ein Schnurrbärtchen kriegerisch starrte. Die wasserblauen Äugelchen blickten schlau in die Welt. Der Gurt der Joppe wölbte sich über dem spitzen Bäuchlein. Trotzdem sprang der Fünfziger gelenkig über den Graben und trat an den Wagen heran.
„Guten Morgen, Leggien! Ich wollte eben zu Ihnen nach Bernöwel.“
„So? Schön! Hohe Ehre! Da fahr’ ich mit!“ Er stieg ein. „Bleib sitzen! ... bleib sitzen, Ilseken! Oder soll ich Sie zu dir sagen, mein Kind ...? Na ... wie du willst!“ Er nahm neben von der Zültz Platz. „Krähen hab’ ich geschossen! Die Biester gehen mir an meine Fasaneneier! Da versteh’ ich keinen Spass ... Na ... Wie steht’s bei Ihnen? Was macht das Futter? Gut? Ja ... aber wissen Sie: ich schimpf’ doch! Ich schimpfe immer! Auf alle Fälle! Schliesslich zahlt der Landwirt ja doch die Zeche!“
„Na ... Sie gewiss am wenigsten!“
Der kleine dicke Junker lachte. Man war jetzt schon auf seinem Grund und Boden. Dort hinten lag Bernöwel. Das war kein altfränkischer Herrensitz wie bei den Zotzens. Das erinnerte an eine Fabrik, mit dem hohen Turm der Brennerei, den Schornsteinen der Dampfmolkerei, den linienweise wie blaugestrichene Batterien aufgefahrenen landwirtschaftlichen Maschinen, den Wellblechschuppen für die Sachsengänger, den endlosen Reihen von Schweineställen, der kleinen Feldbahn in die Torfmoore hinaus — an eine Fabrik kaufmännischer Grossindustrie zur Erzeugung von Branntwein, Schinken, Butter und Mehl, mit dem Hauptbuch im Kontor.
„Ein toller Betrieb — was?“ sagte der von Leggien stolz. Um sie herum waren bunte Kopftücher, fremdartige Gesichter, slawische Laute. Ungarn. Galizier. Russen.
„Ja ... nu geht die Kampagne los! Anno Tobak war’s gemütlicher! Aber jetzt muss sich der Mensch wehren — gegen Berlin! ... Wissen Sie: Ich mag trotz alledem die Berliner gern! ... Sie haben so was Naives!“
„Da sind Sie auch der erste Mensch, der das ...“
„Doch! Doch! ... Sehen Sie mal: die Berliner halten jeden, der Kartoffeln baut, für dumm! ‚Jotte doch! So ’n Ajrarier!‘ Da zuckt schon der Jüngling an der Heringstonne mitleidig die Achseln. Ein Segen fürs Geschäft! ... Ich kann ein Gesicht machen, töricht wie ein Waisenknabe, wenn es sein muss! Ich reiss’ die Leutchen nicht aus ihren Illusionen!“
„Ja. Sie ...“
„Wollen Sie mit mir frühstücken, Zültz? Ich seh’s der kleinen Gnädigen an: sie hat Hunger! Ich hab’ einen Bordeaux — noch ehrenfeste Bremer Ware, nicht das moderne Gesöff! ... Tröstet einen bei den schlechten Zeiten! ... Das Geld ist knapp! Ich bin froh, dass ich bei meiner Bank Kredit habe! Aber wie so ’n brauner Lappen in Natura ausschaut, das weiss ich kaum mehr! Nee — Spass beiseite ... wahrhaftig, Verehrtester!“
Dabei zwinkerte er den andern treuherzig aus seinen kleinen wässerigen Augen an. Das war deutlich genug. Es hiess: ‚Gib dir keine Mühe! Ich weiss schon alles! Aber hier jibt’s nischt! ... Keinen polnischen Groschen!‘ Kaspar von der Zültz begriff das. Er stieg entschlossen wieder in den Wagen. Der Bernöweler heuchelte Erstaunen.
„Und ich dachte, Sie hätten mir was zu sagen?“
„Ach nee — lieber nich!“
„Na, denn: ’Morjen!“
„’Morjen!“
Als sie ausser Sicht der grossen Spiritus- und Schinkenfabrik waren, sagte Ilse kläglich: „Papa! Ich hab’ aber wirklich Hunger!“
Ihr Vater fuhr aus seinen Gedanken auf und strch sich über die Stirne, auf der trotz des lauen Maiwindes kalte Schweisstropfen perlten.
„Ja, ja!“ sagte er. „Die Gäule müssen ja auch verschnaufen!“
Sie frühstückten unter alten Linden vor einem Dorfkrug. Ilse fütterte die Hühner und streute Krümel für die Spatzen und ahmte als sachkundiges Landkind das gereizte: ‚Kauder! Kauder!‘ des grossen Truthahns nach, bis dem vor Zorn der ganze Hals blaurot schwoll. Ihr Vater sah sie, den Kopf auf die Hand gestützt, gramvoll von der Seite an, wie sie, seelenvergnügt kauend, in ihrem weissen Kleidchen dasass, auf dem durch das noch halbkahle Lindengeäst hindurch die goldenen Sonnenkringel tanzten, das zarte, schmale Kindergesicht mit den dunklen Augen von dem grossen Strohhut überschattet. Dann fuhren sie weiter. Auf Rosenrade zu. Das war kein schlichter Edelsitz wie die andern. Das war ein Schloss, neuerbaut, mit ragenden Türmen, inmitten eines englischen Parks. Hier kam es aufs Geld nicht an. Die Herrin des Hauses stammte aus Hamburg und hatte die drei wilden Schwäne im Wappen derer von Machwitz neu vergoldet. Ihr Gatte war reicher, als es seine Vorfahren hier in sechshundert Jahren je gewesen. Er war ein blonder, eleganter Mann mit einem langen Heidelberger Durchzieher über die linke Backe, Dr. juris, Kammerherr, mit seiner Frau mehr in seiner Stadtwohnung in Berlin, bei Hof und in der Hofgesellschaft zu Hause als hier draussen. Zu ihm kam man nicht so leicht wie zu den andern. Ein Haushofmeister meldete an, ein Lakai verschwand mit der Karte, ein zweiter führte den Besucher geräuschlos in das Arbeitskabinett.
„Bitte, nehmen Sie Platz! Womit kann ich dienen, Herr von der Zültz?“
Es klang äusserst kühl. Zurückhaltend bis zur Möglichkeit. In seiner gesellschaftlichen Stellung vermied der Kammerherr von Machwitz auf Rosenrade alles, was nicht ganz zweifelsohne war, so ängstlich wie mit Lackschuhen eine Pfütze am Wege. Der andere fühlte das. Er sagte sich: ‚Was fahr’ ich eigentlich bei all den Leuten herum? Es hilft ja nichts! Ich bin ja im Kreise bekannt wie ’n bunter Hund!‘ Aber er war nun einmal da. Er lachte und hüstelte und fing zu reden an. Nicht lange. Dann machte Herr von Machwitz eine Handbewegung.
„Ersparen wir uns das weitere, Herr von der Zültz! Ich bin leider ganz ausserstande ...“
„Ja, aber lassen Sie mich nur ...“
„... völlig ausserstande, mich mit Ihren Angelegenheiten zu befassen! Diese Berliner Geschäfte sind nicht nach meinem Geschmack ... bitte, verargen Sie mir meine Offenheit nicht!“
„O bitte sehr!“
Der Kammerherr begleitete mit der Höflichkeit, die ihn nie verliess, seinen Gast bis an die Schwelle des Schlosses. Er begrüsste auch Ilse, die im Wagen aufstand und knickste, mit einer Verbeugung, als sei sie schon eine Dame. Das schmeichelte der Kleinen. Sie war vor Verlegenheit rot geworden. Wieder trotteten die Gäule dahin. Sie liessen die Köpfe hängen. Es ging im Schritt. Die Räder mahlten in weichem Sand. Kaspar von der Zültz schrak empor: „Wo sind wir denn zum Kuckuck?“
„Bei Görtzke, gnädiger Herr!“
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