1 ...8 9 10 12 13 14 ...17 Doch dieser Rüssmann lässt nicht locker. Sein Ehrgeiz treibt ihn zu immer neuen Anstrengungen. Auf dem Trainingsplatz und daneben. Während die anderen bereits auf dem Weg unter die Dusche sind, schnappt sich Rüssmann mit hochrotem Kopf noch einmal den Ball, um ihn eine Viertelstunde lang wie besessen gegen die Schusswand zu treten. Gutendorf registriert den Eifer seines Schützlings – und dessen PR-Feldzug in eigener Sache. Betreuer Lichterfeld, Co-Trainer Cendic oder Präsident Siebert, ja selbst der eine oder andere Mitspieler wird „Rollis“ klagender Worte gewahr. Jeder solle bitte beim Trainer ein gutes Wort für ihn einlegen, damit er endlich spielen könne.
Selbst die erste Begegnung mit Uwe Seeler, dem Idol seiner Kindheit, nutzt Rüssmann. Nach dem Spiel erwischt er Seeler vorm Kabinengang, nicht nur, um ihn seiner Wertschätzung zu versichern. Es sei immer schon sein großer Traum gewesen, einmal in der Nationalmannschaft zu spielen, offenbart er dem staunenden Uwe. Ein Vortrag, den er bei jedem folgenden Treffen mit Seeler wiederholt. Zum Ziel führt es ihn – vorerst – nicht. Rüssmann muss noch sehr lange auf die Erfüllung seines Traums warten. Was allerdings andere Gründe hat.
Nach der sensationellen Rückrunde der Vorsaison sind die Erwartungen auf Schalke vor der Spielzeit 1969/70 enorm gestiegen. Günter Siebert schürt das Feuer, spricht offen von einem angestrebten Spitzenplatz. Auch Experten wie WDR-Hörfunk-Sportchef Kurt Brumme sehen Schalke unter den Titelaspiranten.
Zu Beginn sieht es so aus, als könne die Mannschaft dem Druck standhalten. Gleich zum Auftakt gelingt im Beisein von Bundespräsident Gustav Heinemann ein glanzvoller 2:0-Heimsieg gegen den späteren Meister Mönchengladbach. Nach neun Spieltagen ist die Mannschaft Dritter, hat nur einmal verloren. Am zweiten Spieltag in Frankfurt, wo sonst. Ein echtes Kuriosum. In den vorausgegangenen 33 Pflichtspielen unter Rudi Gutendorf gab es ganze drei Niederlagen, allesamt in Frankfurt, darunter auch das verlorene Pokalfinale gegen Bayern.
Doch die Mannschaft kann das hohe Anfangsniveau nicht halten. Die Qualität des Kaders entpuppt sich als unzureichend. Hinzu kommt die ungewohnte Doppelbelastung durch die Auftritte auf europäischer Bühne. Am 8. November setzt es eine 0:8-Klatsche beim 1. FC Köln, die dritte Niederlage in Folge. Trainer Gutendorf spricht nach dem Debakel gegenüber Pressevertretern von einem „Kindergarten“. Wobei er offen lässt, ob er das Alter seiner Mannschaft oder einfach nur ihr reichlich naives Auftreten meint. Wie dem auch sei, Günter Siebert nimmt die Äußerungen zum Anlass, erstmals die Arbeit des Trainers öffentlich in Frage zu stellen. Gutendorf bevorzuge fertige Spieler, Talente müssten sich bei ihm hinten anstellen. Starker Tobak, haben doch Sobieray und Scheer den Sprung ins Team bereits geschafft und steht das Debüt von Rüssmann unmittelbar bevor.
In Siebert brodelt es. Die unberechtigte Kritik hat aber andere Gründe. Siebert, der Platzhirsch, hat einen Nebenbuhler bekommen. War der Präsident bisher alleiniger Ansprechpartner für Reporter, ist jetzt plötzlich ein zweiter da. Einer, der die Klaviatur der Medien im Schlaf beherrscht. Der Präsident sieht seine Pfründe schwinden. Erfolge hat er bisher allzu gerne als Früchte seiner konzeptionellen Arbeit verkauft. Im Misserfolg muss jetzt der andere herhalten. Der aufkommende Konflikt – ein Krieg der Eitelkeiten.
Wobei auch Weltenbummler Gutendorf keinesfalls unter mangelndem Hang zur Selbstdarstellung leidet. Positiv ausgedrückt: Der Mann bringt Farbe ins triste Grau des Gelsenkirchener Alltags. Seine aus den USA importierte Corvette „Sting Ray“ sorgt genauso für Aufsehen wie seine junge und attraktive Frau Ute. Findet im Übrigen auch so mancher Spieler. So macht Waldemar Slomiany den Erzählungen einiger Mitspieler zufolge Frau Gutendorf unzweideutige Offerten. Woraufhin Herr Gutendorf gezeigt haben soll, dass er am längeren Hebel sitzt. Bei einem Freundschaftsspiel in Münster wechselt er den Polen ein, um ihn zwei Minuten später wieder rauszunehmen.
Gutendorf selbst legt Wert auf sein Äußeres, will jugendlich erscheinen. Ein Drang, der mitunter skurrile Formen annimmt. So kommt es häufiger vor, dass Spieler vergeblich nach ihren Vitamintabletten suchen, die nach Trainingseinheiten regelmäßig in der Kabine der Glückauf-Kampfbahn ausgelegt werden. Gerne wirft sich der Trainer selbst das eine oder andere Präparat ein. Bei Flügen zu Europacupspielen grinsen die Spieler über seinen gewöhnungsbedürftigen Modestil. Während ein feiner Zwirn Oberkörper und Beine kleidet, finden sich seine Füße schon mal in vulgären Turnschuhen wieder.
Auch seine Kurzsichtigkeit spielt ihm den einen oder anderen Streich. Weil er sich von einer Brille verunstaltet fühlt, trägt er Kontaktlinsen. Es sind Exemplare der ersten Generation, Haftschalen genannt. Mit dem einzigen Problem, dass sie nicht immer halten, was ihr Name verspricht. Hin und wieder haften sie nicht. So soll es auch bei einem Flutlichtspiel am 21. April 1970 auf dem Betzenberg gewesen sein. In der 65. Minute zeigt Schiedsrichter Frickel auf den Punkt. Doch noch bevor Otto Rehhagel den Strafstoß zum 1:1-Endstand verwandeln kann, ist lautes Gelächter auf der Schalker Bank zu vernehmen. Gutendorf soll seine zunächst verdutzten Spieler mit der ins Feld geschrienen Frage behelligt haben: „Warum macht denn keiner ’ne Mauer?!“
Es sind diese und andere Kleinigkeiten, die auf Dauer an seiner Autorität nagen. Der schmale Grat zwischen PR-Aktion und sinnvoller Maßnahme ist für viele Spieler überschritten, als Gutendorf sie auf dem tiefen Geläuf der Trabrennbahn einem selbst gesteuerten Sulky hinterherrennen lässt. So etwas kommt bei der Presse gut an, bei der Mannschaft nicht.
Auch die uneingeschränkte Rückendeckung für Kapitän Libuda können manche nicht mehr nachvollziehen. Immer häufiger leistet sich der Star der Mannschaft Extratouren, die Gutendorf nur noch bedingt geheim halten kann. Am 23. Dezember 1969 wird Libudas Wohnhaus im Haverkamp von mehreren Polizeiwagen mit Blaulicht großräumig abgeriegelt. Eine schwangere Frau hat den Nationalspieler der sexuellen Belästigung bezichtigt. Libuda verbringt die Nacht zu Heiligabend in Untersuchungshaft, wird am nächsten Morgen auf freien Fuß gesetzt. Im Januar 1970 wird das Ermittlungsverfahren der Essener Staatsanwaltschaft mangels Beweisen eingestellt.
Mit Beginn der Rückrunde verabschiedet sich die Mannschaft endgültig aus dem Titelrennen. Wegen des schneereichen Winters kommt es zu zahlreichen Spielausfällen. Im Februar und März gibt es aufgrund der Nachholspiele allein vier englische Wochen. Nur im Europacup scheint die Terminfülle dem Team nichts anhaben zu können. Die Spiele im Wettbewerb der Pokalsieger gehen in die Geschichte ein. Allen voran der erste Auftritt beim irischen Vertreter Shamrock Rovers.
Vorm Spiel schreibt der Irish Independent , Gelsenkirchen sei ein Wintersportzentrum zwischen Düsseldorf und Köln. Doch statt mit den Iren Schlitten zu fahren, stochern die Schalker im Hinspiel kräftig im Nebel rum. Beim Abschlusstraining hat Gutendorf seine Stammelf gegen eine durch Nigbur und Rüssmann verstärkte Journalistenauswahl kicken lassen. Das Spiel endet 1:1. Gutendorf tobt. Abends dann, im kleinen Dubliner Stadion, fehlt ihm vollends der Durchblick. Was diesmal nichts mit seinen Kontaktlinsen zu tun hat. Der Nebel ist so dicht, dass sich alle wundern, warum der dänische Unparteiische die Partie anpfeift. Plötzlich ein Schrei auf dem Rasen. Stille. Von der Pressetribüne, einem Bretterverschlag, rufen Reporter herunter: „Was ist passiert?“ Aus dem Nebel antwortet einer: „Tor!“ Frage von oben: „Für wen?“ Antwort aus dem Nebel: „Für uns!“ „Wer hat’s gemacht?“ „Ich!“ „Wer bist du denn?“ „Der Pirkner!“
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