1 ...6 7 8 10 11 12 ...17 Vier Tage später jedoch, bei Gutendorfs Punktspielpremiere, ist der Junge aus Heiden ein Totalausfall. Wieder hängt er als Linksaußen völlig in der Luft, wirkt bei seinen wenigen Aktionen saft- und kraftlos. Die Mannschaft verliert bei Hertha BSC 0:1. Die erste Aufbruchstimmung ist dahin.
Doch Gutendorf lässt sich nicht beirren. Er hat in Berlin gute Ansätze gesehen. Und auch bei Aki weiß er schnell, wo er den Hebel ansetzen muss. Ein paar Tage später besucht der Trainer den jüngst zum Wehrdienst Berufenen an dessen Standort in Borken. Gutendorf schlägt zwei Fliegen mit einer Klappe. Auch Norbert Nigbur leistet in der Kaserne im Münsterland seinen Grundwehrdienst, wie Aki als Funker. Doch während der Torwart von Beginn an wegen Knieproblemen geschont, Wochen später sogar ausgemustert wird, trägt Aki – im wahrsten Sinne des Wortes – schwer an seinem Schicksal. Die stundenlangen Nachtmärsche mit reichlich Gepäck absolviert er klaglos. Er hält die Bundeswehr für eine sinnvolle Einrichtung. Da gilt es, sich ein- und unterzuordnen. Eine Extrawurst will er nicht gebraten bekommen. Und da die Zeiten der Sportförderkompanien noch nicht angebrochen sind, kriegt Aki das volle Programm. Was ihm bei seinen Kameraden, darunter viele Schalke-Fans, zu immenser Beliebtheit verhilft. Auf dem Platz, dem Fußballplatz, aber hat es den Anschein, als schleppe er das unsichtbare Gepäck auch in kurzen Hosen mit sich herum.
Dennoch, der Besuch des Trainers baut ihn auf. Gutendorf versichert ihm, dass er weiter auf ihn zähle, auf Dauer fest mit ihm plane. Und in der Tat, trotz der Doppelbelastung spielt er in seiner ersten Bundesligasaison 26-mal, davon 19-mal von Beginn an. Eingewechselt wird er lediglich in den letzten Spielen der Saison, als die Kräfte vollends schwinden. Nicht nur bei Lütkebohmert arbeitet Gutendorf mit unkonventionellen Mitteln. Der Mann ist hart, aber gerecht, kommunikativ und doch stets unberechenbar.
Heinz van Haaren, den Gutendorf bereits aus gemeinsamen Zeiten in Marl-Hüls und Duisburg kennt, lässt er, je nach Gegner, Libero, linken Verteidiger oder im Mittelfeld spielen. Aki Lütkebohmert pendelt zwischen Mittelfeld und Linksaußen. Stan Libuda macht er zum Kapitän, gegen seinen Willen. Libuda betrachtet er als sein größtes Sorgenkind – nicht ohne Grund. Der labile Rechtsaußen leidet unter der Vorstellung, seine attraktive Frau Gisela gehe fremd. Ob Wahnvorstellung oder berechtigter Verdacht, wird nie vollends geklärt. Fest steht, dass Gegenspieler den genialen Dribbler mit verbalen Grätschen leichter stoppen können als mit harter Manndeckung. Duisburgs Linksverteidiger Michael Bella erweist sich mit dieser fiesen Masche wiederholt als besonders erfolgreich. Libuda bleibt auch für Gutendorf unberechenbar. Einmal Alleinunterhalter, beim nächsten Mal Stehgeiger. Libuda ist für den erfahrenen Coach eine große Herausforderung. Der misst sich und seine Arbeit daran, den Rechtsaußen wieder in die Spur zu bringen. Es ist sein höchstpersönlicher Anspruch, den Publikumsliebling wieder zum Nationalspieler zu machen.
Auch die Medienarbeit pflegt der Weltenbummler wie kein Zweiter. Gutendorf geht auf die Pressevertreter zu, ruft sie, wenn nötig, an und hat für ihre Fragen stets ein offenes Ohr. Aus seiner Zeit in den USA hat er die Öffentlichkeitsarbeit schätzen gelernt. Als er seinen Kader morgens um sechs in Trainingskleidung vorm Zechentor antreten lässt, hat er gleich zweierlei im Sinn. Den Kumpels zeigen, dass auch ihre Idole hart und früh malochen, und die Mannschaft wachrütteln. Einige waren zuvor häufiger zu spät zum Training erschienen. Nach der Aktion tritt Besserung ein.
Die Gegenspieler beschreibt er in flammenden Reden als „Unsympathen“. Nach der Auftaktniederlage bei Hertha warnt er vor dem richtungsweisenden Spiel gegen Frankfurt: „Die wollen euch die Punkte stehlen, eure Prämien kassieren. Die wollen, dass ihr absteigt. Die wollen euch eure Existenz rauben!“ Als beide Teams eine halbe Stunde vorm Anpfiff erstmals den Platz betreten, wundern sich die Frankfurter, dass die Schalker ihren Blicken verstohlen ausweichen. Jedwede Form der Begrüßung, Händeschütteln und Ähnliches, ist selbst unter alten Bekannten strengstens untersagt. Obwohl mancher Spieler die Maßnahme gewöhnungsbedürftig findet, wirkt sie irgendwie. Schalke gewinnt 2:0. Es ist der Beginn einer wundersamen Auferstehung. Die Niederlage zum Auftakt in Berlin bleibt die einzige – bis zum letzten Spieltag, einem 0:1 in Frankfurt. Schalke ist mit 27:7 Punkten die beste Rückrundenmannschaft, belegt am Ende Platz sieben. Die beste Platzierung in der Bundesligageschichte.
Und noch gibt es die einmalige Gelegenheit, die tolle Saison zu krönen. Am 14. Juni 1969 steht Königsblau erstmals seit 14 Jahren wieder im Pokalfinale. Der Weg dahin begann am 4. Januar mit einem 3:2 nach Verlängerung bei Regionalligist Rot-Weiß Oberhausen. Es folgte ein Heimsieg gegen einen weiteren Regionalligisten, 3:1 gegen den SV Alsenborn. Im Viertelfinale wurde Aachen 2:0 bezwungen. Im Halbfinale kam es nach einem 1:1 in Kaiserslautern zu einem Wiederholungsspiel in der Glückauf-Kampfbahn. Dank eines überragenden Heinz van Haaren, der neben Pohlschmidt auch noch zwei Treffer erzielte, siegte Schalke 3:1.
Dumm nur, dass der Finalgegner Bayern München heißt. Die Bayern schicken sich an, nach Schalke 1937 als zweiter deutscher Verein das Double zu holen. Dumm auch, dass sich Schalkes wichtigster Mann früh verletzt. Heinz van Haaren, nach Problemen am Ischiasnerv fit gespritzt, erleidet im Zweikampf mit Gustl Starek einen Pferdekuss. Weil er fortan nicht mehr richtig auftreten kann, bittet er Rudi Gutendorf um seine Auswechslung. Der aber schreit kopfschüttelnd vom Spielfeldrand: „Mach weiter!“ In der Pause bekommt der Spielmacher die nächste Spritze. Gutendorf fordert ihn ein weiteres Mal auf, durchzuhalten. Bayern führt 2:1 durch zwei Müller-Tore, nachdem Pohlschmidt zwischenzeitlich ausgeglichen hat. In der zweiten Hälfte schleppt sich van Haaren, für jeden der 64.000 im Frankfurter Waldstadion deutlich erkennbar, nur noch schwerfällig über den Platz. Eine Viertelstunde vor Schluss hat auch Gutendorf ein Einsehen, erlöst van Haaren und bringt Waldemar Slomiany.
Am Ergebnis ändert das nichts mehr. Den Pokal bekommt Bayern-Kapitän Werner Olk in die Hände gedrückt. Rudi Gutendorf und Heinz van Haaren gehen sich am Abend bei der Mannschaftsfeier im Hotel aus dem Weg. Erst am nächsten Tag, auf der Rückfahrt mit dem Zug, treffen sie sich wieder. Auf dem schmalen Gang müssen sie sich aneinander vorbeischieben. Der Trainer würdigt seinen Spielmacher dabei keines Blickes. Noch Jahre später wird er ihm vorhalten, dass sie das Spiel gewonnen hätten, wenn van Haaren drin geblieben wäre.
Um 13.17 Uhr rollt der Eilzug aus Frankfurt auf dem Gelsenkirchener Hauptbahnhof ein. Die Bergwerkskapelle Consolidation intoniert das Vereinslied „Blau und Weiß“. Spieler der Jugendmannschaften bilden ein Spalier am Bahnsteig. Auf dem Bahnhofsvorplatz drängt sich die blauweiße Masse. Beim offiziellen Teil im Hans-Sachs-Haus erinnert OB Scharley unter lauten Bravorufen an die Worte von DFB-Präsident Dr. Gösmann. Der hatte nach dem Finale gesagt, auch Schalke wäre ein würdiger Pokalsieger gewesen. Gutendorf und 17 Spieler erhalten die silberne Ehrennadel der Stadt.
Unter ihnen ist auch Aki Lütkebohmert. In Frankfurt hat er nur auf der Bank gesessen. Dennoch ist er am Ende des Tages nicht unglücklich. Die Feier ist auch für ihn der krönende Abschluss einer bemerkenswerten ersten Saison. Dabei ist er so richtig auf den Geschmack gekommen. Abends in Heiden zeigt er seinen Eltern stolz die Anstecknadel: „Beim nächsten Mal möchte ich die goldene haben!“
Wiedersehen mit Europa
Dank des Einzugs ins Pokalfinale, so viel stand vorher schon fest, reist Schalke erstmals seit zehn Jahren wieder durch Europa. Die Vorfreude auf die Saison ist groß, zumal der Präsident auf seinem Weg, eine große Mannschaft aufzubauen, wieder ein Stück weitergekommen ist. Mit Klaus Scheer, Rolf Rüssmann und Jürgen Sobieray hat Siebert drei Jugend-Nationalspieler verpflichtet. Die Verjüngungskur schreitet voran. Alle drei sind 18 Jahre alt und gelten bundesweit als echte Perspektivspieler. Klaus Scheer hat eigentlich eine Vorliebe für den 1. FC Köln. Wolfgang Overath ist sein Idol. In der westdeutschen Jugendauswahl spielt er mit Bernd Cullmann zusammen. Die Kölner signalisieren ihm früh ihr Interesse. Doch dann tritt Günter Siebert auf den Plan.
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