Als seine Spieler zur zweiten Hälfte aus der Kabine schleichen, gibt’s prompt die nächste Demütigung. Durch die geöffnete Tür der City-Kabine steigt ihnen dichter Qualm entgegen. Beinahe genüsslich sitzen die englischen Profis noch auf ihren Holzbänken und rauchen. Der Letzte drückt seine Zigarette beim Auflaufen auf der Treppenstufe zum Rasen aus.
Viel Rauch um nichts – aus Schalker Sicht. Auch im zweiten Abschnitt sind die englischen Profis den Gästen stets einen Schritt voraus. Nein, dieses Spiel ist keine geeignete Werbung für die Anti-Raucher-Kampagne. Sekunden vor Schluss ist es Libuda vorbehalten, wenigstens noch den Ehrentreffer zu erzielen. 5:1 heißt es am Ende. Wenigstens muss kein Schalker jetzt jahrelang lamentieren, das Finale sei so nah gewesen. In Manchester war es für eine restlos überforderte Schalker Mannschaft unerreichbar weit weg.
In etwa so weit weg wie eine gütliche Einigung zwischen den ewigen Streithähnen Gutendorf und Siebert. Unmittelbar nach dem Abpfiff betont Siebert einmal mehr, dass eine gedeihliche Zusammenarbeit mit dem Trainer nicht mehr möglich sei. Diesmal holt der Trainer die Mannschaft mit ins Boot, oder besser, ins Haus. In seine Wohnung im Gelsenkirchener Stadtteil Heßler. Gutendorf will die Stimmung im Team ausloten. Keiner traut sich, Partei gegen ihn zu ergreifen. Und die, die seit Längerem gegen ihn opponieren, die Ersatzspieler, sind gar nicht erst gekommen.
Am darauffolgenden Abend klingeln Günter Siebert und Heinz Aldenhoven an Gutendorfs Wohnungstür. Wieder mal wird ein brüchiger Burgfrieden geschlossen. Noch erscheint den Verantwortlichen ein vorzeitiger Rauswurf zu teuer. Für den müsste Schalke 120.000 Mark berappen. Nicht zu bezahlen, obwohl der Verein durch den Europapokal ein lukratives Zusatzgeschäft hatte.
Eine alles in allem enttäuschende Saison endet – wegen der anstehenden WM in Mexiko – denkbar früh am 3. Mai 1970. Sie endet versöhnlich. Nach zuletzt fünf sieglosen Spielen in Folge ringt die Mannschaft dem noch amtierenden Meister Bayern München nach 0:2-Rückstand noch ein 2:2 ab. Beide Tore erzielt Aki Lütkebohmert, das erste in der 73. Minute nach Flanke von Slomiany sogar per Kopf. Ein Körperteil, das er gewöhnlich nur für andere Tätigkeiten verwendet. Spätestens sein Sololauf mit schönem Distanzschuss zum Ausgleich in der 85. Minute beeindruckt auch die Bayern.
Am Tag nach dem Spiel klingelt im Heidener Kreuzweg das Telefon. Am anderen Ende der Leitung: Bayern-Manager Robert Schwan. Franz Lütkebohmert versichert dem freundlichen Mann, er wolle es seinem Sohn ausrichten. Akis Vater notiert Namen und Telefonnummer des Anrufers. Der Umworbene ist, wie so häufig, im Wald unterwegs, Pilze sammeln. In den Wäldern rund um seinen Heimatort kennt er sich bestens aus. Hier findet er die nötige Ruhe und Ausgeglichenheit, kurzum, seinen inneren Frieden, der ihm mehr wert ist als alles andere. Mit Laufschuhen oder Pilze-Korb – fast egal. Ein Vorteil beim geliebten Pilzesammeln liegt aber klar auf der Hand, oder noch besser, an der Hand. Seine Freundin Christa begleitet ihn. Seit gut zwei Jahren sind die beiden ein Paar. Sie ist nicht mehr wegzudenken aus seinem Leben.
Als die beiden am Abend in Akis Elternhaus zurückkommen, liegt der Notizzettel des Vaters neben dem Telefon. Aki überfliegt die Zeilen und schluckt. Bayern München, an der Seite von Maier, Müller, Beckenbauer, die Nationalmannschaft vor Augen. Er wird am nächsten Tag auf jeden Fall zurückrufen. Er legt den Zettel wieder auf die Ablage zurück. Dann sieht er Christas flehenden Blick. Eine Woche später unterschreibt er Sieberts Vertragsangebot zu leicht verbesserten Konditionen.
Jugend forsch
Zweimal hatte Schalke in der Vorsaison gegen 1860 München gewonnen. In beiden Spielen boten die Löwen ein neues Stürmertalent auf: Klaus Fischer. Ein Tor hat er in diesen Partien zwar nicht gemacht, dafür aber mächtig Eindruck. Auf das Schalker Bankpersonal und ein paar Meter weiter oben, auf die Tribünengäste. Nach dem 3:1-Sieg im Februar 1970 bedrängt Fritz Szepan Günter Siebert: „Den müssen wir holen!“
Leichter gesagt als getan. Fischer hat in seiner ersten Bundesligasaison gleich 19 Tore erzielt. Die Bewerber stehen Schlange. Günter Sieberts Ehrgeiz aber ist längst geweckt. Für seine Traumelf fehlt ihm noch ein echter Torjäger. Dem einstigen Mittelstürmer bereitet die Torflaute geradezu körperliche Schmerzen. In der Vorsaison haben Schalkes Spieler ganze 43 Tore bejubelt. Erfolgreichster Schütze war Manfred Pohlschmidt, mit fast 30 Jahren in Sieberts Augen so etwas wie ein Auslaufmodell. Keine Frage, dieser Fischer ist genau das, was Schalke sucht. Jung, wendig, kopfballstark, ein echter Strafraumstürmer eben. Seine Verpflichtung ist Chefsache, ein Stück weit auch geheime Kommandosache. Zumindest in der Theorie. In der Praxis ist sie eher eine Mischung aus Schmierentheater und Komödienstadl.
Doch der Reihe nach. Siebert lässt nichts unversucht, den 20-Jährigen für seine Pläne zu gewinnen. Die erste Kontaktaufnahme kann alles entscheidend sein. Das weiß der Präsident aus – zumeist guter – Erfahrung. Siebert muss nach München reisen, so viel ist klar. Und er darf dabei nicht erkannt werden. Anfang April stoppt er seinen Mercedes kurz hinter der Münchener Stadtgrenze. Neben ihm sitzt Schatzmeister Aldenhoven. Siebert öffnet das Handschuhfach. Aldenhoven grinst. Siebert greift zu. Eine Minute später sehen beide aus wie Handlungsreisende aus Istanbul. Die Schnurrbärte sitzen, die Hüte sind tief in die Stirn gezogen. Als sie Klaus Fischer nach dem Training an der Grünwalder Straße ansprechen, fühlt der sich zunächst im falschen Film. Es dauert ein paar Sekunden, bis der Verwirrte die präsidiale Maskerade durchschaut. Sie beeindruckt ihn aber offensichtlich, denn nur zwei Wochen später sitzen die Herren Siebert und Aldenhoven im elterlichen Wohnzimmer in Zwiesel.
Auch hier bedarf es besonderer Anstrengungen. Da ist zum einen die Mutter des Torjägers, der die beiden Schalker in weiser Voraussicht zur Begrüßung einen dicken Blumenstrauß in die Hände drücken. Passend zum Präsent lässt der Präsident eine blumige Rede folgen, über die Vorzüge seines Vereins, seiner selbst und überhaupt. Die Mutter zeigt sich wenig beeindruckt: „Da ist mir der Junge zu weit weg. Da sehen wir ihn ja gar nicht mehr!“ Siebert tätschelt Mutter Fischer den Arm: „Ach wissen Sie, genauso hat meine Mutter damals auch geredet …“ Er erzählt ihr die Geschichte seines Lebens, die Geschichte des jungen Mannes, der gegen den Willen der Mutter die Heimat verließ, um im fernen Gelsenkirchen sein Glück zu suchen und zu finden. Die Geschichte ist noch nicht ganz zu Ende erzählt, da schellt es an der Tür. Oh je, es ist 1860-Geschäftsführer Ludwig Maierböck! Siebert und Aldenhoven ergreifen die Flucht. Nur wohin in der Eile? Das Fenster!
Sekunden später stehen die beiden auf der Terrasse. Ohne Mantel. Es ist kalt im April im Bayrischen Wald. Und der Maierböck hat anscheinend auch eine Lebensgeschichte zu erzählen. Gut eine Stunde harren sie aus. Frierend, mit ihrem Schicksal hadernd, nach einer Beruhigungszigarette schmachtend. Wie Gangster auf der Flucht. Dann wird das Fenster von innen wieder geöffnet. Die beiden kehren in die Wärme zurück. Und siehe da: Der unerwartete Besuch des Kollegen hat – mal abgesehen von einigen leichteren Erfrierungserscheinungen – nicht geschadet, im Gegenteil. Die Fischers sind jetzt einhellig der Meinung, Schalke sei für ihren Klaus die beste Lösung. Was wohl durchaus auch mit dem Barscheck zu tun hat, den Günter Siebert aus dem Jackett zieht, mehr noch mit der Summe, die er darauf einträgt: 120.000 Mark. Da Klaus Fischer noch nicht volljährig ist, unterschreibt der Vater das von Siebert vorbereitete Vertragswerk.
Schön und gut, aber für den Vorhang ist es noch viel zu früh in diesem Schauspiel. Wenige Tage später bringt der Postbote einen Brief aus Zwiesel auf die Schalker Geschäftsstelle. Inhalt: der unangerührte Barscheck. In einem beigelegten Brief bedankt sich Klaus Fischer für die Wertschätzung und erklärt, dass er jetzt doch bei 1860 unterschrieben habe.
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