Und drittens – vielleicht am wichtigsten – nahm man an, dass einige Individuen größere übernatürliche Kräfte besaßen als andere. Immer noch Radcliffe-Brown zufolge »entsprachen diese besonders bevorzugten Personen in gewissem Ausmaß den Medizinmännern, Zauberern oder Schamanen anderer primitiver Gesellschaften.« 18Je nachdem, von welcher Insel sie stammten, hießen sie Oko-jumu oder Oko-paiad . Sie beherrschten angeblich das Wetter; ein Gedanke, der ganz sicher weder einem Bonobo noch einem Schimpansen je gekommen ist. Jeder achtete folglich peinlichst darauf, sich mit ihnen gut zu stellen. Zwar besaßen sie nicht unbedingt Autorität oder gar Macht über andere, aber bestimmt größeren Einfluss als der Durchschnitt. Kurz, selbst in der einfachsten aller bekannten humanen Gesellschaften, primitiver noch als die Stämme im Hochland von Papua-Neuguinea, hoben sich einzelne Personen von den anderen ab. Man könnte sogar sagen, sobald innerhalb oder außerhalb der Familie irgendeine Form der Organisation existierte, beruhte sie auf Ungleichheit und verstetigte diese noch. Zudem zeigt etwa die Tatsache, dass die Jungen die Alten ernähren mussten, sowie die Existenz von Schamanen, dass Beziehungen nicht wie bei den Tieren ausschließlich über persönliche Leistung definiert wurden, sondern dass auch andere Faktoren eine Rolle spielten.
Anders als die Andamaner beherrschten die australischen Aborigines auch die Technik des Feuermachens. 19Ihr Lebensraum war genauso isoliert, aber arm an Ressourcen und ungleich größer, was zu einer eher nomadischen Lebensweise führte. In anderer Hinsicht waren die beiden Populationen jedoch vergleichbar: Einige Andamaner sind so genannte Negritos, sind also kleinwüchsig, dunkelhäutig und haben krauses »Pfefferkornhaar«. Das brachte einige Anthropologen zu der Annahme, dass die beiden Gruppen irgendwie in Bezug zueinander stehen. Die Menschen lebten in Horden auf der Grundlage von Verwandtschaftsbeziehungen, wobei in beiden Kulturen eine genauere Untersuchung erweisen sollte, dass es sich häufig nicht um Blutsverwandtschaft handelte, sondern um fiktive, durch Adoption entstandene Bindungen. Zwar gab es keine Herrscher, doch innerhalb jeder Gruppe besaßen die Eltern eine gewisse Autorität über die Kinder und die Älteren über die Jüngeren. Vor allem die Ältesten genossen Respekt aufgrund ihrer angenommenen Nähe zur Geisterwelt und ihrer Fähigkeit, auf sie Einfluss zu nehmen. Häufig konnten sie Ressourcen von den Jüngeren übernehmen und ihre Ansichten durchsetzen. 20Ein Autor ist der Ansicht, dass sie die jungen Männer so manipulierten, dass sie gegeneinander zum Kampf antraten. Auf der Grundlage dieser Faktoren und seines Geschlechts kannte jedes Individuum seinen Platz und besaß seine genau definierten Rechte und Pflichten. Von Gleichheit konnte also keine Rede sein. Innerhalb der Stämme waren zudem einige Familiengruppen anderen überlegen.
Ein drittes Volk, das wir in diesem Zusammenhang nennen sollten, sind oder waren die Nuer im Südsudan. Wie die Andamaner und die Aborigines kannten auch die Nuer keine Herrscher, keine Institutionen und keine zentrale Regierung. Am besten beschreibt ihre Gesellschaft vielleicht der Begriff von der »geordneten Anarchie«. 21Die von ihnen genutzten Technologien waren stärker entwickelt als bei den Andamanern und Aborigines, doch auch sie hatten nur wenig materiellen Besitz. Alles, was sie besaßen, war so einfach, dass praktisch jeder es für seine unmittelbaren Bedürfnisse mit den verfügbaren Materialien vor Ort herstellen konnte. Land, Wald und Wasserquellen waren Gemeinschafts»besitz« des gesamten Stammes. Auf einer ganz anderen Ebene als die beiden anderen Völker bewegten sich die Nuer allerdings insoweit, als dass sie Viehzüchter waren und Rinder besaßen. Diese deckten einen wesentlichen Teil ihrer Ernährung sowie viele andere Aspekte ihres Grundbedarfs. Das Vieh war im Leben des Volks so wichtig, dass Reichtum sich fast ausschließlich an der Zahl der Tiere ermaß, die eine Person oder Familie besaß. Die Konkurrenz darum war sehr hart. Manche hatten mehr Rinder, andere weniger. Zugleich existierte aber auch ein ausgeklügeltes System von verbindlichen Tauschgeschäften zwischen den Familien, die anlässlich von Geburten, Hochzeiten und Todesfällen stattfanden, aber auch in Form von Blutgeld. Üblicherweise bewegte sich die Ungleichheit damit in klar abgesteckten Grenzen.
Wie bei den Andamanern und den Aborigines besaßen Väter einige Autorität über Kinder, Onkel über Neffen und ältere Geschwister über jüngere. Wie bei den Aborigines schrieb man einigen Personen einen besseren Zugang zu Zauberkräften zu als anderen. Damit wurden sie zu natürlichen Anführern. Besonders wichtig waren die so genannten Propheten. Da sie angeblich von einem oder mehreren Göttern besessen waren, konnten sie die Zukunft voraussagen und Kriegszüge initiieren (die sie freilich nicht kommandierten). Eine enge Analogie besteht hier zu der Prophetin Debora im alttestamentarischen Buch der Richter. Mit ihren Worten brachte sie das Volk Israel dazu, zu erwachen und sich gegen seine Unterdrücker aufzulehnen. 22Dabei begleitete sie weder den nachfolgenden Feldzug, noch hatte sie die Autorität, irgendjemandem Befehle zu erteilen. Weibliche Propheten sind übrigens auch in anderen Kulturen nicht unbekannt.
Zurück zu den Nuern: Ihre Propheten repräsentierten oder symbolisierten nichts und niemanden. Obwohl der Geist in ihnen ruhte, hatten sie keine Autorität, geschweige denn eine formale Autorität und die Macht, sie durchzusetzen. Einfluss hingegen besaßen sie mit Sicherheit. Wie schmal häufig der Grat ist, der beides voneinander trennt, muss hier wohl kaum betont werden.
Die Nuer glichen den australischen Aborigines insofern, als einige Lineages sich als Aristokraten (diel) betrachteten und bei anderen als solche galten. Weitere waren ihnen nur angegliedert (rul) . Bei Mordfällen konnten Mitglieder der diel mehr Blutgeld einfordern als Familien der rul . Offenbar beruhte die Unterscheidung darauf, dass die Individuen der besagten Lineages aus reinrassigen Nuern bestanden. Damit unterschieden sie sich von den anderen, die in der Vergangenheit durch Krieg, Gefangenschaft und Adoption eine gewisse Beimischung von Dinda-Blut erworben hatten. 23Festzuhalten ist jedenfalls, dass hier bei der Herausformung der sozialen Rangordnung die Abstammung eine Rolle spielte, wenn auch nur als einer neben anderen bestimmenden Faktoren. Einige Lineages, die zwar eigens als »neu« bekannt waren, genossen dennoch einen höheren Status, und zwar deshalb, weil man ihnen höhere Macht im Umgang mit den Rindern zuschrieb, also etwa die Fähigkeit, kranke Tiere zu heilen oder unfruchtbare Kühe zum Kalben zu bringen. Das Standardwerk über die Nuer, eine der besten anthropologischen Studien, die je geschrieben wurden, strotzt in der Tat nur so von Wörtern wie »älter« und »dominant«.
Schon allein die Tatsache, dass einige Clans größer waren als andere, sollte ihnen größeren Einfluss verleihen. Die Andamaner, die Aborigines, die Nuer und viele andere beweisen, dass selbst die politisch am wenigsten entwickelten, materiell weitgehend egalitären Gesellschaften der Erde anerkannten, dass unterschiedliche Individuen unterschiedlich zueinander in Beziehung stehen. Auch dass Individuen über unterschiedliche Fähigkeiten verfügen, war natürlich anerkannt. Und genau diese Unterschiede führten dazu, dass den Individuen auch unterschiedliche Rechte und Pflichten zugebilligt wurden. Wer diese Rechte und Pflichten verletzte, konnte sich schwerer Bestrafung aussetzen, weil die anderen sich – in Anregung und nach Anleitung, wenn auch nicht unter dem Befehl einiger der Privilegierten – gegen sie wendeten. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass eine dieser Gesellschaften sich auf die Annahme gründete, jeder habe exakt denselben Status, dieselben Rechte und dieselben Pflichten wie jeder andere oder sollte sie zumindest haben.
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