Selbst wo Unterschiede zwischen den Mitgliedern einer Gruppe gering blieben, fühlten sich in jeder Gesellschaft die Mitglieder einer Gruppe denen anderer Gruppen stets überlegen. Diese gefühlte Ungleichheit war zwischen unterschiedlichen Gesellschaften sogar noch größer. Und dieses Überlegenheitsgefühl herrschte mit sehr großer Wahrscheinlichkeit auf beiden Seiten. Sowohl das Volk, als auch die Gruppen sprachen übereinander und behandelten einander dementsprechend.
Natürlich gilt dasselbe auch für Häuptlingstümer. Der Übergang von den Hordengesellschaften zu voll entwickelten, hierarchisch organisierten Häuptlingstümern muss ein extrem komplexer Prozess gewesen sein. Gelegentlich ist er vielleicht auch rückwärts verlaufen, wenn Häuptlingstümer sich auflösten und auseinanderfielen, weil sie durch Krieg und Eroberung ihre Führung verloren. Die Schwierigkeit besteht nicht nur darin, dass es unzählige Zwischenstufen gibt, sondern dass obendrein jeder Anthropologe offenbar seine eigene Hierarchie aufstellen möchte, die mit den Theorien der Kollegen unvereinbar ist. Die einen sprechen von den Ältesten, die anderen von Big Men , andere von Priestern, wieder andere von Kriegsfürsten, noch andere von Häuptlingen. Andere erkennen segmentierte oder akephale (kopflose) Gesellschaften oder Sodalitäten oder Schichtengesellschaften. Andere konstatieren weiterhin ausgedehnte Familien und Erblinien und Clans und Stämme und Nationen; gar nicht zu reden von der Zentralisierung und ihrem Gegenteil, der Dezentralisierung.
Ungleichheit kann entweder permanent sein oder periodisch (die Fachtermini dafür lauten simultane beziehungsweise sequentielle Hierarchie). Für letztere gibt das bereits erwähnte Buch der Richter ein gutes Beispiel. In einer Zeit, in der »kein König in Israel« war und »jeder tat, was ihn recht dünkte«, tauchte jedes Mal, wenn die Menschen von einem fremden Volk unterdrückt wurden, ein Richter auf. 34Er – einmal auch sie – beanspruchte für sich, ein Gesandter des Herrn zu sein, und wurde von den anderen als solcher akzeptiert; in der Folge sprach er ihnen Mut zu und führte sie aus ihren Sorgen heraus. Noch bis zu seinem Tod richtete er über sie, und danach kehrte wieder der Normalzustand ein. Einige Richter versuchten ihre Autorität an ihre Söhne weiterzureichen, doch in der Regel blieb das auf Dauer erfolglos.
Die wichtigsten Faktoren für die Verschiebung hin zu Häuptlingstümern waren wahrscheinlich folgende: eine wachsende Bevölkerung, die zu mehr Kontakt zwischen den Menschen führte und irgendeine Form der Regierung notwendig machte; die Herausbildung einer materiellen Kultur, in vielen Fällen etwa die Erfindung der Metallnutzung, was zu Spezialisierung, Tauschhandel und der Anlage von Vorräten führte; 35und der Krieg. Der letztgenannte Faktor, Krieg, lässt sich selbst zum Teil als Folge, zum Teil als Ursache der beiden anderen verstehen. Alle drei Faktoren traten in unendlich verschiedenen Kombinationen auf. So konnte zum Beispiel eine Überbevölkerung zu Krieg, Eroberung und der Einrichtung einer neuen sozialen Hierarchie führen, in der die Sieger die Verlierer unterdrückten und ausnutzten. Dazu muss es überall auf der Welt oftmals gekommen sein. Als dagegen James Cook als Erster auf Hawaii landete, erkannte er in der Situation vor Ort genau das Gegenteil. Die Inseln schienen weniger Menschen zu beherbergen, als die zur Verfügung stehenden Ressourcen hätten ernähren können; und diesen Umstand führte er auf andauernde gegenseitige Vernichtungskriege zurück. 36
An der Spitze jedes Häuptlingstums stand ein oberster Anführer oder Häuptling – fast immer ein Mann, selten eine Frau. Seine Bedürfnisse, Forderungen und Befehle hatten Vorrang vor denen aller anderen. Umgeben war er von rangniedrigeren Anführern, von denen viele seine Verwandten waren, also Onkel, Brüder, Söhne und Neffen. Andere verbanden sich mit ihm durch Heirat mit seinen weiblichen Verwandten, wodurch sie ihre politischen Bündnisse mit ihm zementierten. Gemeinsam bildeten sie eine erheblich privilegierte Oberklasse, die vor allem auf Verwandtschaft beruhte. Der Häuptling hatte überproportional viele Frauen (häufig von sehr viel niedrigerem Status); das wiederum verschaffte ihm eine überproportional große Nachkommenschaft. Selbst in den wenigen offiziell monogamen Gesellschaften wie etwa im homerischen Griechenland bildeten die Anführer in der Regel große Harems aus versklavten Frauen. 37Die Polygynie war eine Ungleichheit in dem Sinn, dass einige so viele Frauen hatten, wie sie wollten oder sogar mehr, andere dagegen leer ausgingen. Viele Häuptlinge hatten auch Handlanger, also eine gewisse Anzahl von Männern, die von ihnen abhängig waren und direkt für sie oder unter ihnen arbeiteten; diese konnten sie unter anderem dafür nutzen, ihren Willen bei widerspenstigen Untergebenen auch unter Zwang durchzusetzen.
Der Häuptling verfügte zudem über einen größeren Anteil an den jeweils als am wertvollsten geltenden Gütern, etwa Rinder, Tierhäute, Federn, Kaurischnecken, Edelmetalle oder Einrichtungen, in denen diese Güter sowie Nahrungsvorräte aufbewahrt wurden. Noch bedeutender war, dass sein Zugriff auf diese Güter nicht von der Zustimmung anderer abhing. In seinem Einflussbereich beschränkte ihn im Wesentlichen nur der Zwang, exzessiver Unzufriedenheit und möglichen Revolten vorzubeugen. Der Häuptling schmückte seinen Körper mit allen möglichen wertvollen Objekten, die der Allgemeinheit nicht zur Verfügung standen. Viele Häuptlingstümer hatten auch Aufwandgesetze, die solche Gegenstände ausschließlich dem Häuptling und seinen unmittelbaren Untergebenen vorbehielten.
Die Wohngemächer des obersten Häuptlings waren viel besser als die aller anderen beschaffen und ausgestattet. Einige lebten in riesigen Festungen oder Palästen, die Tausenden Handlangern beiderlei Geschlechts Platz boten. Der oberste Häuptling besaß Autorität über alle anderen, häufig auch die Autorität, jene, die ihm missfielen oder die er für schuldig befand, zum Tode zu verurteilen. Seine eigene Person dagegen galt als sakrosankt. Auch Haare, Nägel oder gar Vorhäute nahmen teil an dieser Heiligkeit, selbst nachdem sie vom Körper abgeschnitten, abgetrennt waren. Ebenso waren Ehefrauen und Verwandten beiderlei Geschlechts, ja sogar viele seiner belebten oder unbelebten Besitztümer unantastbar. Besonders bedeutend in dieser Hinsicht waren die Insignien wie etwa Diademe, Zepter, Federn, Armbänder und bestimmte Typen von Kleidung und Mobiliar. Sie wurden sorgfältig bewacht und üblicherweise zu bestimmten Festlichkeiten getragen oder ausgestellt.
Die Häuptlinge verdankten ihre Position entweder ihrer eigenen – realen oder angeblichen – politisch-militärischen Leistung oder der Vererbung. In beiden Fällen fanden ihre Privilegien eine zusätzliche Stütze in der Religion. Häufig reichte ihre Abstammung zurück zum Stammesgott oder den Stammesgöttern. Entweder ihre Vorfahren oder sie selbst waren zu irdischen Vertretern der Gottheit(en) bestimmt worden. Im Alten Testament lautet der Begriff dafür »Erwählter Gottes«. Um die Rolle der Vererbung zu unterstreichen, werden etwa die Masken oder Mumien der Häuptlingsvorfahren oder irgendwelche symbolischen Gegenstände, die mit ihnen assoziiert werden, sorgsam verwahrt. Einige der mit der Anführerschaft verbundenen Objekte, zum Beispiel der berühmte Goldene Stuhl Asantes, waren angeblich direkt vom Himmel gefallen. Um die Verbindung zum Göttlichen noch weiter zu stärken, wurden die Hauptereignisse im Leben des Häuptlings, etwa Geburt und Tod, sowohl ausgiebig gefeiert, als auch mit Tabus belegt. So konnte etwa bei seiner Ernennung für die Untergebenen jeden Rangs ein Sexverbot gelten; bei seinem Tod konnte es verboten sein, metallene Gegenstände zu berühren oder bestimmte Trommeln zu schlagen und so weiter.
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