„‚Endlich kam der Neger nach dem Hinterschiffe, und jeder von uns war auf der Hut, als er vorbeiging, denn wir hatten ihn das Messer wetzen sehen. Er begab sich nach den Sternschooten, wo das arme Weib sass; wir alle wussten, was er beabsichtigte, denn er handelte nur nach unsern eigenen Gedanken. Sie hing noch immer über dem Schanddeck, die Augen abwärts gerichtet, und achtete nicht auf seine Annäherung. Er ergriff sie am Haare und zerrte ihren Kopf gegen sich hin. Sie breitete nun ihre Arme gegen mich aus und rief mit matter Stimme meinen Namen. Aber ich — o der Schande — blieb auf dem Hinterdost sitzen. Der Neger stiess sein Messer gerade unterm Ohr in ihren Hals, und sobald die Arterie zertrennt war, heftete er seine dicken Lippen auf die klaffende Wunde, um ihr Blut aufzusaugen.
„Als die That geschehen war, erhoben sich auch andere, um ihren Anteil zu holen; aber der Neger hielt seine blitzenden Augen auf sie gerichtet und streckte, sobald er seinen Durst gestillt hatte, den einen Arm mit dem Messer aus, während er mit dem andern ihren Leib umfing und die sterbende Gestalt unterstützte. Die Haltung war die der Zärtlichkeit, während die That — Mord war. Es hatte den Anschein, als ob er sie liebkose, während das Blut ihres Lebens durch seine Kehle hinunterfloss. Endlich zogen wir alle unsere Messer, der Neger erkannte, dass er endlich seinen Raub oder sein Leben aufgeben musste. Er liess das Weib los, und es fiel, mit dem Gesicht nach vorne, zu meinen Füssen nieder. Die Frau war tot, und dann — stillten wir unsern Hunger.
„‚Noch drei Tage entschwanden, und abermals hetzte uns der Mangel an Wasser in Wahnsinn — als wir endlich eines Schiffes ansichtig wurden. Wir jubelten, drückten uns die Hände, warfen unsere Ruder aus und arbeiteten darauf los, als ob die Not unsere Kräfte nicht hätte beeinträchtigen können. Noch immer herrschte Windstille, und als wir uns dem Schiffe näherten, warfen wir die Überreste des armen Weibes in die See, den Haifischen zum Frasse. Wir kamen mit einander überein, nichts von ihr zu sagen, denn wir schämten uns vor uns selbst.
„‚Ihr seht, ich habe keinen Mord begangen, ihn aber auch nicht verhindert, aber seitdem verfolgt mich stets die Spukgestalt dieses armen Weibes. Ohne Unterlass sehe ich sie und den Neger vor mir und denke dabei an den schauderhaften Vorfall. Ich fühle, dass ich sie hätte retten sollen — sie streckt stets ihre Arme gegen mich aus, ich höre ihren matten Ruf: ‚Charles‘! — dann lese ich meine Bibel — sie verschwindet und es ist mir, als habe ich Vergebung gefunden. — Sagt mir, was haltet Ihr davon, Kamerad?‘
„‚Je nun‘, versetzte ich, ‚Umstände zwingen uns oft zu Handlungen, die wir sonst nie für möglich halten würden. Ich war nie in einer solchen Lage und kann daher nicht sagen, wie weit sich Leute verlockt fühlen können — aber sagt mir, Kamerad, wie hiess der Mann jener armen Frau?‘
„‚Der Mann hiess Ben Rivers.‘
„‚Rivers, sagt Ihr?‘ versetzte ich in höchster Bestürzung.
„‚Ja‘, antwortete er; ‚so hiess sie. Sie war aus dieser Stadt — doch was liegt an dem Namen — sagt mir, was Ihr von der Sache haltet, Kamerad!‘
„‚Nun‘, erwiderte ich, denn ich war ganz verwirrt, ‚ich will Euch was sagen, alter Bursche — so weit ich dabei beteiligt bin, so habt Ihr meine Vergebung, und nun muss ich Euch Lebewohl sagen. — Gebe Gott, dass wir uns nie wieder sehen.‘
„‚Haltet noch ein wenig‘, sagte er; ‚verlasst mich nicht in dieser Weise. Ach! ich sehe wie es ist — Ihr haltet mich für einen Mörder.‘
„‚Nein, das thu’ ich nicht‘, versetzte ich; ‚nicht gerade — dennoch wird’s kein Schade sein, wenn Ihr Eure Bibel lest.‘
„Und so stand ich auf und verliess das Zimmer — denn siehst Du, Jack, obgleich er vielleicht in der Sache entschuldigt werden kann, so mochte ich doch nicht in der Gesellschaft eines Menschen bleiben, der meine eigene Mutter aufzehren half!“
Ben hielt inne und seufzte tief. Ich war so erschüttert durch seine Erzählung, dass ich kein Wort sprechen konnte. Endlich fuhr Ben fort:
„Ich konnte nicht mehr in der Stube — nicht mehr im Werkhaus — nicht mehr in der Stadt bleiben. Ehe die Sonne unterging, war ich fort, und seitdem bin ich nicht mehr dort gewesen. Aber jetzt muss ich hineingehen; Jack — vergiss nicht, was ich Dir gesagt habe, und lerne die Bibel lesen.“
Ich versprach ihm dies und erhielt noch am nämlichen Abend von Peter Anderson meinen Unterricht. Dies ging so lange fort, bis ich lesen konnte. Dann lehrte er mich Schreiben und Rechnen; aber bis es zu dem letzteren kam, trugen sich viele Vorfälle zu, die ich dem Leser mitteilen muss.
In welchem der Doktor einige sehr neue Kurmethoden namhaft macht, die von dem besten Erfolge begleitet sind.
Seit meinen früheren Erinnerungen hat sich Greenwich dermassen verändert, dass es mir etwas schwer fallen wird, den Leser bezüglich der Lokalitäten gebührend zu unterrichten. Enge Strassen sind niedergerissen und schöne Häuser aufgebaut worden; die kleinen Wirtshäuser haben neuen Gasthöfen Platz gemacht; die Hökerbuden, welche nur die Bedürfnisse der Matrosen befriedigten, sind prächtigen Läden gewichen. Früher waren die gewöhnlichen Mittel für den Reiseverkehr lange Postkutschen mit einem Korb hinten, in dem sechs Personen sitzen konnten, und Diligencen, die an den Elefanten mit dem Schlosse erinnerten — jetzt hat man Eisenbahnen und Omnibusse. Früher brachte das Fährboot den Mariner e) und sein Weib mit seiner Seekiste nach dem Landungsplatz hinunter — jetzt speien Dampfboote ihrer Hunderte zumal aus. Selbst der Gesamtanblick von Greenwich hat sich sehr verändert und ist da und dort durch hohe Türme, die Magazine für Kugeln und Fabrikwaren, oder durch ein in der Ferne kühn sich erhebendes Gebäude unterbrochen, während die prächtige Gestalt des Dreatnought fast den halben Strom ausfüllt und nun, nachdem er früher mit seinen schrecklichen Zähnereihen Tod und Verderben verbreitete, die menschlichere Bestimmung der Hilfe und des Beistandes erhalten hat.
Ich erwähne dies, weil das Haus, in welchem früher Doktor Tadpole wohnte und das ich dem Leser besonders zu schildern wünsche, nicht mehr existiert.
Als ich im Jahre 1817 oder 1818 Greenwich verliess, stand es noch, freilich in einem sehr verfallenen Zustand. Ich will eine kleine Skizze davon geben, da sich sein Bild tief meinem Gedächtnis eingeprägt hat.
Es war ein schmales Gebäude von dunkelroten Ziegeln, viel verziert und wahrscheinlich zur Zeit der Königin Elisabeth gebaut. An jeder Seite der Thür standen zwei Bänke, denn ehe es in Doktor Tadpoles Besitz kam, war es ein Bierhaus gewesen, das sich eines starken Zuspruches von seiten der Matrosen erfreute. Der Doktor hatte die Bänke nicht wegschaffen lassen; sie boten bei schönem Wetter denjenigen, welche auf Arzneien oder ärztlichen Rat warteten, grosse Bequemlichkeit; auch war er ein heiterer, geselliger Mann, der es gern sah, wenn sich die Leute vor seinem Hause niederliessen und er mit ihnen plaudern konnte. In der That trug dies viel dazu bei, ihm Ruf zu verschaffen; er wurde dadurch unter den niedrigen Klassen so bekannt, dass niemand, der Arznei oder Rat brauchte, an jemand anders, als an Doktor Tadpole dachte. Dabei war er sehr freigebig und wohlwollend, weshalb kaum eine arme Person in der Stadt war, die nicht in seiner Schuld stand, weil er die Unbemittelten selten wegen der Bezahlung beunruhigte. Er hatte glücklicherweise ein kleines Vermögen, da er sonst kaum die vielen Verluste in seinem Geschäfte geduldig hätte hinnehmen können. In früherer Zeit war er Wundarzt in der Flotte gewesen und man sagte ihm (vermutlich mit Recht) nach, dass er sehr geschickt in seiner Kunst sei. Als er sich gegen einen Akt der Bedrückung von seiten seines Kapitäns rechtfertigte (denn in jenen Zeiten war der Dienst ganz anders, als heutzutage), hatte er das Missfallen des Flottenkollegiums auf sich gezogen und deshalb den Dienst verlassen. Seine Feinde (denn sogar der Doktor hatte seine Feinde) behaupteten, sein Amt sei ihm abgenommen worden, während seine Freunde sagten, er habe dasselbe aus Widerwillen aufgegeben — im Grunde eine Frage von sehr geringer Bedeutung. Der Doktor ist nun tot und hat in der Stadt Greenwich den Ruf der Mildthätigkeit und des Edelmutes zurückgelassen, dessen ihn niemand berauben kann. Er wurde auf dem Kirchhofe zu Greenwich begraben; und selten wohl ist eine Leiche unter einer zahlreicheren, freiwilligen Trauerbegleitung der Erde zurückgegeben worden. Der Arme zahlte ihm voll die Schuld der Dankbarkeit, wenn er auch seine anderen Posten unentrichtet liess, und als das Testament des Doktors eröffnet wurde, stellte sich heraus, dass der Verstorbene sämtliche in letztere Kategorie gehörende Forderungen erlassen hatte. Friede sei mit ihm und Ehre seinem Andenken!
Читать дальше