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In § 27 Abs. 1 ProdSG wird der Adressatenkreis möglicher Marktüberwachungsmaßnahmen wie folgt bestimmt:
„Die Maßnahmen der Marktüberwachungsbehörde sind gegen den jeweils betroffenen Wirtschaftsakteur oder Aussteller gerichtet. Maßnahmen gegen jede andere Person sind nur zulässig, solange ein gegenwärtiges ernstes Risiko nicht auf andere Weise abgewehrt werden kann. Entsteht der anderen Person durch die Maßnahme ein Schaden, so ist dieser zu ersetzen, es sei denn, die Person kann auf andere Weise Ersatz erlangen oder ihr Vermögen wird durch die Maßnahme geschützt.“
Die Marktüberwachungsbehörden sind im Rahmen ihres Auswahlermessens bei der Störerauswahl von Gesetzes wegen auf den Kreis der „Wirtschaftsakteure“ im Sinne des § 2 Nr. 29 ProdSG beschränkt. Somit setzt das ProdSG bei den Adressaten nicht an den aus dem Polizei- und Ordnungsrecht der Länder bekannten Verhaltens- und Zustandspflichtigen an, sondern an den Begriffen „Wirtschaftsakteur“ und „Aussteller“88.89 Ob diese Akteure auch in einem polizei- und ordnungsrechtlichen Sinne verhaltens- und/oder zustandspflichtig wären, muss daher nicht im Einzelnen geprüft und bejaht werden. Die Inanspruchnahme der Wirtschaftsakteure im Sinne des § 2 Nr. 29 ProdSG ist verhältnismäßig, da sie mit der Bereitstellung nicht konformer Produkte auf dem Markt derart stark verbunden sind, dass kein Raum für die Inanspruchnahme anderer Akteure besteht.90 Erst wenn kein Wirtschaftsakteur in diesem Sinne in Anspruch genommen werden kann, ist das behördliche Auswahlermessen auf „jede andere Person“ gemäß § 27 Abs. 1 S. 2 ProdSG auszuweiten.91
bb) Auswahl bei mehreren Wirtschaftsakteuren als Adressaten
Das Auswahlermessen der Marktüberwachungsbehörden wird relevant, wenn mehrere Wirtschaftsakteure in Anspruch genommen werden können. In diesem Fall ist eine rechtmäßige Ausübung des Auswahlermessens durchzuführen, da immer nur ein Wirtschaftsteilnehmer Hersteller im Sinne des ProdSG für ein Produkt sein kann, wie noch zu zeigen sein wird.92
cc) Kein spezieller Vorrang eines Wirtschaftsakteurs
Das ProdSG enthält keine Aussage darüber, wer bei mehreren in Betracht kommenden Pflichtigen zur Abwehr heranzuziehen ist. Selbst die polizei- und ordnungsrechtlichen Grundnormen zur Gefahrenabwehr enthalten dazu keine Aussage. Somit sind die betroffenen Wirtschaftsakteure grundsätzlich gleichrangig heranziehbare Adressaten93 behördlicher Marktüberwachungsmaßnahmen nach § 26 Abs. 2, 4 ProdSG.94
Das Geräte- und Produktsicherheitsgesetz GPSG hingegen legte noch eine Reihenfolge fest. Danach sollte die Marktüberwachungsbehörde gemäß § 8 Abs. 5 S. 1 GPSG a.F. „Maßnahmen nach Absatz 4 vorrangig an den Hersteller, seinen Bevollmächtigten oder den Einführer richten“. Dieses sogenannte Werktorprinzip sollte zu einer quellnahen Bekämpfung unsicherer Produkte führen. 95 Jedoch habe sich die vorrangige Heranziehung des Herstellers, seines Bevollmächtigten oder des Einführers nach der Gesetzesbegründung zum ProdSG in der Praxis nicht bewährt.96 In der Praxis konnte immer wieder beobachtet werden, dass Marktüberwachungsbehörden mit Untersagungsverfügungen dennoch an Händler herantraten, obwohl der Hersteller ohne Weiteres erreichbar wäre.97 Außerdem kennt auch die VO (EG) Nr. 765/2008 ein entsprechendes Vorrangprinzip nicht.98 Daher wurde die festgelegte Reihenfolge des GPSG im ProdSG bewusst nicht beibehalten und besitzt daher auch keine Ausstrahlungswirkung im Sinne einer historischen Auslegung auf das ProdSG.
dd) Der Effektivitätsgrundsatz
Damit auf der Grundlage des ProdSG allerdings effektiv Gefahren vor Produktrisiken abgewehrt werden können, ist bei der Störerauswahl der Effektivitätsgrundsatz99 vorrangig zu beachten. Das bedeutet, dass die Gefahrenbeseitigungsmaßnahmen zu einem raschen und wirksamen Abwehrerfolg führen müssen.100 Entscheidend ist, schnell einen gefahren- und störungsfreien Zustand zu erreichen.101 Im Produktsicherheitsrecht bedeutet dies eine Ausrichtung des Ermessens am Ziel, den Zustand der Nichtkonformität in Bezug auf das in Rede stehende Produkt wirksam zu beenden.102 Somit muss im Rahmen des Ermessens festgestellt werden, welcher Wirtschaftsakteur den festgestellten Verstoß am effektivsten abstellen kann.103
Im Rahmen der Abwägung innerhalb des Effektivitätsgrundsatzes ist des Weiteren auch das Verursacherprinzip zu beachten: Danach sind Maßnahmen, die an der Quelle, das heißt bei der Herstellung des gefährlichen Produkts, ansetzen, wirksamer als Maßnahmen im Einzelhandel, sodass der Grundsatz der quellnahen Überwachung von hoher Bedeutung ist.104 Indem das Produktrisiko an der Quelle, also beim Hersteller, bekämpft wird, kann das Inverkehrbringen des unsicheren Produkts nur durch einen Verwaltungsakt effektiv unterbunden werden. Folglich muss die Marktüberwachungsbehörde nicht mehrere, möglicherweise regional weit verstreute einzelne Händler identifizieren und zum Unterlassen der Inverkehrgabe der Produkte verpflichten. Das Erlassen eines Verwaltungsakts ist erheblich effektiver und zeitsparender als der Erlass mehrere Verwaltungsakte gegenüber verschiedenen Wirtschaftsakteuren. Gleiches gilt, wenn Produkte aus dem Markt zurückgerufen105 oder zurückgenommen106 werden müssen. Indem das Produktrisiko an der Quelle bekämpft wird, kann durch einen Verwaltungsakt gegenüber dem Hersteller der Rückruf oder die Rücknahme angeordnet werden, anstatt mehrere Händler dazu zu verpflichten.
Obwohl die gesetzliche Vorrangregelung abgeschafft wurde, sieht der Länderausschuss für Arbeitsschutz und Sicherheitstechnik (LASI) dennoch die quellnahe Bekämpfung mit ihrem Verursacherprinzip als Maxime in der effizienten Marktüberwachung, sodass Händler keinesfalls verstärkt in den Fokus der Marktüberwachungsbehörden gerückt werden sollen, sondern die Hersteller weiterhin die zentrale Person von Marktüberwachungsmaßnahmen darstellen sollen.107
Des Weiteren wird aufgrund der Konzeption des Ausnahmetatbestands für die Adressatenauswahl nach § 27 Abs. 1 S. 2 ProdSG deutlich, dass die Marktüberwachungsbehörden hinreichend bestimmte Kenntnis davon besitzen müssen, welcher Wirtschaftsteilnehmer Hersteller im Sinne des ProdSG ist. Nach § 27 Abs. 1 S. 2 ProdSG können im Ausnahmefall auch Wirtschaftsteilnehmer in Anspruch genommen werden, die keine Wirtschaftsakteure im Sinne des § 2 Nr. 29 ProdSG sind. Die Ausnahmeregelung des § 27 Abs. 1 S. 2 ProdSG stellt folglich eine Ausformulierung der Figur des sogenannten Nichtstörers dar. Diese Person ist für eine vorhandene Störung nicht verantwortlich. Deshalb darf gegen eine solche Person nur ausnahmsweise vorgegangen werden, wenn ein Vorgehen gegen einen Störer, das heißt einen legaldefinierten Wirtschaftsakteur, nicht möglich ist oder es keinen Störer gibt.108 Voraussetzung für die rechtmäßige Inanspruchnahme des Nichtstörers ist die Unmöglichkeit, das im Raum stehende ernste Produktrisiko „auf andere Weise“ abzuwehren. Mit diesem Tatbestandsmerkmal regelt der Gesetzgeber deutlich den – verfassungsrechtlich gebotenen – Vorrang der Inanspruchnahme der Wirtschaftsakteure nach § 2 Nr. 29 ProdSG.109 Folglich kann eine „andere Person“ nur dann rechtmäßig in Anspruch genommen werden, wenn Maßnahmen gegen den betroffenen Wirtschaftsakteur, insbesondere den Hersteller, nicht Erfolg versprechend sind. Um dies zu beurteilen, muss der Hersteller allerdings durch die Marktüberwachungsbehörde zunächst rechtssicher identifiziert werden können.
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