»Ihnen ist also ein Riesengewinn durch die Lappen gegangen?«
Sie antwortete nicht. Papa Danielsen stand der Mund offen. »Äh ... nein.« Er starrte auf den Boden. »Aber das konnte ich ja nicht wissen.«
»Ihre Frau hat sie also vor einer unnötigen Geldausgabe bewahrt.«
»Wir hätten gewinnen können«, sagte er tonlos.
»Sie sollten Ihrer Frau danken.«
»Tja ... vielleicht.«
Zu Williams Erstaunen wankte der Mann zu der Frau, die er soeben misshandelt hatte, setzte sich vorsichtig neben sie und legte seinen Arm schützend um ihre Schultern. Und damit nicht genug: Anstatt ihn wegzuschieben, lehnte sie ihren bandagierten Kopf an seinen und murmelte: »Ist schon gut.«
Der Rest des Alkohols wurde konfisziert, ohne dass der Mann protestierte, während Maria die Geschwister ins Kinderzimmer begleitete. Dort blieb sie eine Viertelstunde und las ihnen eine Gutenachtgeschichte vor, während ein aufrichtig empörter Rikard Papa Danielsen die Leviten las und ihm seine Verantwortung als Erziehungsberechtigter ins Gedächtnis rief. Am Ende der Gardinenpredigt ließen die beiden auf dem Sofa ihren Tränen freien Lauf, während sie sich aneinander klammerten und der Mann Besserung gelobte.
»Wenn sich so etwas noch ein einziges Mal wiederholt«, schloss Rikard, »dann kommen wir und buchten Sie ein, Danielsen!«
»Ja, ja«, schluchzte der Paterfamilias.
»Sie erledigen gewissenhaft Ihre Arbeit, habe ich gehört. Warum gehen Sie nicht genauso verantwortungsbewusst mit Ihrer Frau um?«
Nach langem Schweigen kam eine Antwort – von ihr: »Das tut er doch. Normalerweise. Nur manchmal verliert er eben die Beherrschung, nur ab und zu. Und natürlich hätte ich den Totoschein rechtzeitig abgeben sollen!«
Das darf doch nicht wahr sein, dachte William. Als er langsam auf den Flur hinausging, hörte er Marias Stimme, der nun jede polizeiliche Autorität fehlte. Sie klang freundlich und warm, als wäre ein Engel herabgeschwebt und hätte sich der Kinder erbarmt:
»Peter Hase ließ sich vorsichtig von der Schubkarre gleiten und lief im Schutz der Johannisbeersträucher so schnell er konnte den Gartenweg entlang. Doch als er um die Ecke bog, entdeckte ihn Gregersen.«
Er kannte diesen Text. Es handelte sich um eine der Erzählungen von Beatrix Potter, die er seinen eigenen Kindern oft vorgelesen hatte, bevor sie für solche Geschichten zu alt geworden und zu einer Literatur übergegangen waren, in denen Menschen anstelle von Tieren sprachen. Durch den Türspalt warf er einen Blick auf die Polizistin, die mit dem Rücken zu ihm saß. Die Geschwister, die eng aneinander gekuschelt im unteren Bett lagen, schienen sich jetzt in einer anderen Wirklichkeit, weit entfernt von Lärm und Gewalt, zu befinden.
Als William wenige Minuten später neben den beiden Beamten die Treppen des Wohnblocks hinunterging, erlaubte er sich ein hymnisches Lob über ihre Arbeit.
»Das Jugendamt sollte euch zu Ehrenmitgliedern machen.«
»Wir sind das Jugendamt«, stellte Maria fest. Ernst fügte sie hinzu: »Manchmal würde ich solche Kinder am liebsten in Wolldecken einwickeln, mitnehmen und nach Strich und Faden verwöhnen.«
Sie hatten gerade im Auto Platz genommen, als ihnen eine Messerstecherei in einem Nachtclub in der Fjordgata gemeldet wurde. Während sie sich auf dem Weg befanden, schaute William auf die Armbanduhr und bat darum, in Nardo abgesetzt zu werden.
»Schon genug?«, fragte Rikard lächelnd.
William wollte das nicht zugeben und schob vor, es sei bereits spät geworden. Am Ende des Thors veg stieg er aus dem Wagen, winkte ihnen noch einmal zu und dachte, dass ihm die letzten Stunden wirklich gereicht hatten. Er selbst hatte nichts tun können und hasste die Rolle als unbeteiligter Zuschauer. Während er durch die frische Nachtluft spazierte, sah er immer noch die Gesichter der Kinder vor sich. Wenn sie als Erwachsene später Konflikte erlebten, war die Wahrscheinlichkeit groß, dass auch sie versuchten, diese mit Gewalt zu lösen.
Auf dem Keramikschild neben ihrer Wohnungstür des Etagenhauses stand: Hier wohnen Solveig, William, Anders und Heidi Schrøder.
Eigentlich war das Schild überholt, doch hatte er keine Lust, es gegen ein anderes auszutauschen. Anders war erwachsen und wohnte nicht mehr bei ihnen. Der Zwanzigjährige hatte gerade ein Medizinstudium in Bergen begonnen. Und Heidi sollte im Frühjahr konfirmiert werden, die kleine Heidi, die sie bei der Geburt fast verloren hätten und die nur dank der neuen Brutkastenbehandlung im Kreiskrankenhaus überlebt hatte. Heidi hatte jubiliert, als ihr Bruder ausgezogen war, weil sie seitdem viel mehr Platz hatte. Wie hatten sie es in all den Jahren nur zu viert in der Wohnung ausgehalten? Sie hatten die Wohnung kurz vor der Hochzeit gekauft, und Nardo war ein ruhiges und günstig gelegenes Viertel. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann er das letzte Mal einen Streifenwagen in ihrer Gegend gesehen hatte. Außerdem hatten sie ein gutes Verhältnis zu ihren Nachbarn. Dennoch verriet die Statistik, dass es selbst in dieser etablierten, bürgerlichen Gegend hinter verschlossenen Türen manchmal zu Gewalttaten kam. Die Dunkelziffer war ungewiss, doch gab es auch hier Drogenmissbrauch, Alkoholismus und psychisch bedingte Konflikte, denen selbst das aufmerksamste Sozialwesen nicht Herr werden konnte.
Doch im Großen und Ganzen empfand er Trondheim als eine Stadt, in der es sich gut leben und arbeiten ließ. Sie verfügte über eine international renommierte Fußballmannschaft, deren Spiele er mit großem Interesse verfolgte, und die Kriminalitätsrate bewegte sich in einem Bereich, der weder Ivar und ihn noch die Polizei vor unlösbare Probleme stellte. Außerdem musste man der Wirklichkeit ins Gesicht sehen und durfte sich von deren Schattenseite nicht lähmen lassen. Als würde es irgendjemand helfen, wenn die Auslandskorrespondenten ihrer Zeitung kein Auge mehr zubekamen, weil sie unentwegt über das Böse in der Welt nachgrübelten!
Als er leise die Tür aufschloss, kam ihm ein Lied von Margrethe Munthe in den Sinn. Er legte seine Kappe auf die Garderobenablage, zog Jacke und Schuhe aus und schlich ins Wohnzimmer.
Das wäre gar nicht nötig gewesen, denn Solveig saß im Fernsehsessel. Das tat sie gern, wenn er Spätdienst hatte, sofern sie sich nicht in ein Buch vertiefte. Da ihre braunen Augen sich völlig auf den Bildschirm konzentrierten, nahm sie keine Notiz von ihm. Er blieb stehen und betrachtete sie einen Augenblick. Solveig war nie im klassischen Sinne schön, doch immer unglaublich süß gewesen. Vielleicht lag es an ihrem unbefangenen, munteren Wesen, dass sie so leicht mit anderen Leuten in Kontakt kam. Auch kam ihr dies im Umgang mit ihren schwierigen Schülern, denen sie zu helfen versuchte, zugute. In diesem Moment fiel das Licht der Leselampe schräg auf ihr dunkles Haar und ließ es wie sonnenbeschienene Lava erglühen.
Sie war vierundvierzig, drei Jahre jünger als er, sah jedoch nicht älter aus als dreißig. Zumindest in Williams Augen.
»Spannend?«
Sie zuckte zusammen, lächelte und streckte die Hand nach der Fernbedienung aus. »Typisch amerikanischer Streifen.«
»Warum liest du nicht lieber?«
»Musst du gerade fragen, als Fernsehjunkie des Hauses.«
»Meinetwegen brauchst du nicht auszuschalten. Es ist erst halb eins, und morgen ist Sonntag.«
»Lass uns lieber noch ein Glas zusammen trinken. Wie wär’s mit einem Drambuie?«
»Gerne. Ich hol die Gläser.«
Sie setzten sich nebeneinander aufs Sofa. Solveig zündete sich eine Zigarette an. William, der ständig versuchte mit dem Rauchen aufzuhören, ließ sich vom Duft verführen und bediente sich ebenfalls. Als sie miteinander anstießen, sagte er nachdenklich: »Das Ehepaar, dem wir vor zwanzig Minuten einen Besuch abgestattet haben, saß genauso da wie wir. Der Mann hatte einen über den Durst getrunken.«
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